Stimmungsschwankungen

“Well, what if there is no tomorrow? There wasn’t one today.”

Von einem, der Kamele durchs Nadelöhr trieb

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Der Mann mit den ruhigen Händen

Anatolij Iwanowitsch Konenko ist nicht der Gott der kleinen Dinge. Er ist nur ihr Erschaffer. Winzigster Bombast ist sein Gebiet. Konenko ist der Meister des Fitzeligen, Bändiger sibirischer Mücken, Verleger von Büchern, die niemand mit bloßem Auge lesen kann. Hereinspaziert, hereinspaziert ins Kabinett des Kuriosen!

Da sitzt er, Anatolij Iwanowitsch Konenko, in seinem Atelier. Omsk, Ulitsa Tarskaja, nette Wohngegend im Zentrum, ruhiges Haus, aufmerksame Nachbarn, stille Wohnung, ausgesucht eingerichtet. Ein Wasserspender blubbert in der Küche.

Der Künstler sitzt in seinem Atelier. Dort unter dem Mikroskop vereinigt der Mann mit den ruhigen Händen Natur und Literatur. Von der Datscha hat er sich eine Libelle mitgebracht. Steif sitzt sie auf dem Uhrenglas und guckt den Künstler an. Die Flügel wie zum Fliegen gespreizt, Bauch, Fühler und Füßchen strecken sich nach oben. Zu spät zum Fliehen. Anatolij Iwanowitsch wird ihr ewiges Leben schenken. Vielleicht baut er ihr ein Haus auf einem Hügel aus Walnussschale. Davor ein Brunnen, dahinter ein Baum, ringsum ein Zaun. Romantisch wäre das. Vielleicht legt er ihr Ketten an, wie dem Kollegen Kartoffelkäfer. Wie unschön. Vielleicht Hufeisen wie dem Floh. Unbequem. Vielleicht eine Geige wie Fräulein Grille. Fehlendes Talent. Vielleicht gibt er ihr Bücher wie dieser anderen Libelle. Bücher, kleiner als der Nagel des kleinen Zehs einer Vierjährigen. Das andere Insekt liegt jetzt auf dem Bauch, als würde es schmökern wie ein Kind an einem verregneten Sonntagnachmittag. Ach, er weiß es noch nicht. „Vorher ist nie klar, was ich aus ihnen mache“, sagt Konenko und wiegt den Kopf hin und her. Seine Libelle wird warten müssen.

Aus seinem Schrank holt Konenko eine Meeresmuschel, gewunden und schief in die Höhe verdreht – in seiner Vorstellung ist sie der Turm von Babel, bevölkert von Fliegen, Mücken, Käfern, Spinnen und Schmetterlingen. Ein gelb-schwarz gepunkteter wartet derzeit auf seine Verwendung. Hinter Glas ruht er auf einem Stück Holz. Kein Pigment fehlt an seinen Flügeln. Mit einem Seufzen stellt er die Muschel neben den Schmetterling. Heute nicht. Heute keine konservierten Krabbler. Keine Idee. Heute Bücher. Bücher, je kleiner desto besser. Das ist momentan die wahre Leidenschaft des Künstlers.

Irre muss jemand sein, könnte man meinen, der sich ernsthaft tage-, wochen-, monate-, gar jahrelang hinsetzt und unter einem Mikroskop ein Buch zusammen friemelt. Ein Buch gerade einmal 0,9 Millimeter mal 0,9 Millimeter winzig, kleiner als ein Floh. Mittels Lupe und Pinzette kann man darin blättern und – rein theoretisch – darin lesen wie in einem ordentlichen Druckwerk. Die Seiten aus dem zarten Weiß der Birkenrinde gefertigt, bedruckt mit Anton Tschechows Erzählung „Das Chamäleon“, 30 Seiten, elf Zeilen Text pro Seite, dazwischen zarte, detaillierte Illustrationen. Mehr als zwei Jahre lang hat der 54-Jährige daran gearbeitet. In dieser Zeit hat er nach Techniken und Material gesucht. Welche Techniken? „Das ist alles no chau“, sagt er. „Von den anderen Miniaturkünstlern verrät doch auch niemand, wie er das macht.“

Zwölf Jahre lang, bis 1996, hielt der Schotte Ian MacDonald den Rekord. Dann betrat der Russe Konenko die Bühne. 1998 stellt er sein Mikrobuch auf einem Kongress in Leipzig vor, da war es schon zwei Jahre alt. 2002 Jahren nahmen ihn die Rekordhüter des Guinessbuches der Rekorde in ihre Hall of Fame auf.

Bisher hat ihn nur die moderne Technik eingeholt. Aber diese Nano-Bücher, die auf ein Kristall passen, die so winzig sind, dass sie mit bloßem Auge nicht mehr zu erkennen sind, „das sind doch keine Bücher! Das sind Notizblöcke, Blattsammlungen, aber keine Bücher!“, schimpft der Ergraute mit dem langen Zopf. Nicht richtig gebunden, nichts gedruckt. Er liefere noch saubere Handarbeit. „Wenn einer ein Buch macht, das kleiner ist als meines, mache ich eben das nächst kleinere“, sagt er.

In Ermangelung echter Herausforderer unter den Miniaturbuchherstellern hat er bereits vor einem Jahr seinen eigenen Rekord gebrochen: 0,8 Millimeter mal 0,8 Millimeter misst sein neuestes Werk. Nur über den Text hat sich der Meister des Kleinen diesmal nicht so viele Gedanken gemacht: 13 Ausgaben hat er produziert – jedes beinhaltet ein anderes Alphabet der Weltsprachen. Eines von ihnen liegt arrangiert neben einer Mücke – eine Buchseite nur unwesentlich größer als der Insektenkopf.

Mit einem Kopf begann es auch bei Anatolij Iwanowitsch. Der Schriftsteller Fjodor Dostojewskij, den sie Mitte des 19. Jahrhunderts in Omsk weggesperrt hatten, der die Stadt in seinen „Aufzeichnungen aus dem Totenhaus“ als keines schönen Ortes gedachte, bekam genau dort ein eigenes Museum. Und in diesem Museum stand der damals noch „normal große Bilder“ malende Künstler Konenko und nörgelte. „Das ist nicht so besonders“, habe er der Direktorin gesagt. „Ich will doch sehen, wie der gelebt hat, wie das aussah. Ein Modell eben.“ Woher nehmen, habe die Direktorin geantwortet, gibt doch keinen der so etwas herstelle. „Ich mach das“, sagte Konenko und mit diesem Satz begann seine Verwandlung vom kleinen Künstler des Großformats zum großen Künstler des Kleinformats. Nach eigener Aussage ist er der erste Miniaturenkünstler in den Weiten Sibiriens.

Er malte das Porträt des Schriftstellers auf einen halbierten Kirschkern und stellte den Kirschkern auf die Nadel eines Kaktus. Daneben platziert er eine 22 mal 30 Millimeter große Ausgabe der „Aufzeichnungen…“ Mit einem auf extra-zart gestutzten Pinsel fertigte er schwarz-weiße Illustrationen zum Buch an. Heute steht der Kasten mit dem Modell im Vortragssaal des Museums. Es sieht so aus, als hätte Dostojewskij einen zierlich-feinen Arbeitsplatz in Omsk gehabt. Das war 1981.

Konenko macht drei Abschlüsse in dieser Zeit, ist Designer, Künstler und Erfinder. Er lehrt an der Universität, bleibt bis heute in Omsk. Sein eigener Mikrokosmos. Hier ist er einzigartig. Aus einem einfachen Gemeinschaftswohnhaus am Rande der Stadt, ohne Wasseranschluss mit Wohnraum und Küche so groß wie sein heutiges Arbeitszimmer arbeitet er sich empor in den zentralen Neubau. Sitzt an der Küchentheke, schnitzt ornamentale Ostereier aus Kirschkernen, treibt eine goldene Kamelkarawane durch ein Nadelör. Es sind die wilden 90er Jahre. Er nimmt Kredite für seine kleinen Bücher auf – 2000 Dollar für das erste, später weniger, noch später noch weniger bis er die Bank nicht mehr braucht, um seine Sammler zu bedienen.

Sein Arbeitsplatz damals ist so groß wie ein Schneidebrett. Seine Frau will kochen. Seine Kinder wollen spielen. Konenko will basteln. Die ersten Bücher, darunter eine Sammlung mit Gedichten des deutschen Dichters Goethe in Deutsch und Russisch, tippt jemand für ihn ab, ein Redakteur liest auf richtige Rechtschreibung. In der Druckerei druckt er das Winzige auf extra feine Seiten, er bindet unter dem Mikroskop. Der Künstler produziert so viel, dass er das meiste verkaufen kann. Die Werke kosten oft nicht mehr als 100 Euro, „sonst könnten sich das meine Sammler in Russland nicht mehr leisten“, sagt er. Eines seiner Bücher befindet sich in der Bibliothek des russischen Präsidenten. Omsk ehrt den Künstler mit einer Dauerausstellung im städtischen Kunstmuseum, auch in Museen in Prag und Barcelona sind seine Werke dauerhaft ausgestellt.

Heute zeichnet seine Frau Olga für ihn. Sohn Stanislaw druckt. Anatolij Iwanowitsch sammelt Insekten auf seiner Datscha. Ein Familienunternehmen „Ich wollte immer nur, dass den Leuten gefällt, was sie sehen“, sagt er. Sein neuester Clou: Ein Miniaturbuch, dessen Schrift und Illustrationen sich erst unter Infrarotlicht offenbaren – „Der unsichtbare Mann“ von H.G. Wells. Wieder einmal das erste und einzige seiner Art, sagt er. Die Idee dazu hatte sein Sohn.

www.konenko.net

Written by Christina

Juni 25th, 2008 at 7:16 pm

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