Stimmungsschwankungen

“Well, what if there is no tomorrow? There wasn’t one today.”

27. Juli

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Sonntag

Gegen halb elf zum Gottesdienst der Mennonitengemeinde. Gott ist Liebe steht auf Russisch an der Wand hinter dem Gemeindevorsteher, der predigt und die Bibel erläutert. Er spricht Plattdeutsch. Ich verstehe so gut wie nichts. Die Gemeinde singt und sie liest den Text aus schon angegilbten, handgeschriebenen Gesangsbüchern ab.

Frauen mit langen, dicken, geflochtenen Zöpfen sitzen vor mir und rahmen das Bild des alten Mannes am Pult ein. Noch mehr Frauen betreten das Haus, das sich von Außen kaum von den anderen unterscheidet. Das Gemeindezentrum ist grün gestrichen. „Tritt herein und höre, was der Herr spricht“, steht in großen weißen Lettern darauf geschrieben.

Die Frauen tragen Röcke und manche Kopftücher. Sie sind nicht geschminkt, es riecht nicht nach Parfüm. Ihre Gesichter unterscheiden sich, ich kann nicht genau sagen, worin, von denen der russischen Frauen, die ich sonst immer sehe. Kinder sitzen artig in den Reihen, getrennt von den Erwachsenen. Eine alte Frau hat es sich hinter den Gemeindemitgliedern auf einer der hinteren Bänke bequem gemacht, ihr Bein hochgelegt und lauscht mit aufgestütztem Kopf den Dingen, die verkündet werden.

Ihren Gesang begleiten die Frauen auf der Gitarre. Es wird viel gesungen. Zum Abschluss versammeln sich die Kleinen zu einem Chor und singen, diesmal auf Russisch, weiter.

Ich führe ein Interview mit dem Gemeindevorsteher. Er erzählt von den Tagen, in denen das Dorf eine kleine, deutsche Enklave mitten in Russland war, als sie nur mit Erlaubnis den Ort verlassen durften, als die Menschen hungerten, von der Zeit, die alles änderte, als ganze Familienclans ihre Koffer packten und ausreisten. Nach ihm gibt es wohl niemanden, der der Gemeinde vorstehen würde, sagt er.

Helene hilft mir beim Gespräch. Sie übersetzt vom Deutschen ins Plattdeutsche und zurück. Ich bin das erste mal froh, wenn ein paar russische Worte fallen – denn die verstehe ich dann auch.

Die 23-Jährige gehört zu einem der Clans, der vor zehn Jahren das Land gen Deutschland verlassen hat. Ihre Familie lebt in Erfurt, sie arbeitet in Frankfurt am Main. Nie wieder wolle sie zurück, sagt sie.

Ich besuche den Uhrmacher des Dorfes. Abraham Steffen ist zugleich das Gedächtnis von Neudatschino. Der alte Mann baut Turmuhren. Eine prangt hoch über dem Ort. Eine weitere steht in seiner Garage zwischen Gartengerät und Moped. Sie ist für einen Turm in Novosibirsk gedacht. Seit vier Jahren bewahrt er sie nun schon bei sich auf. Der Turm, an dem sie die Zeit anzeigen soll, ist noch immer nicht gebaut. Es tickt im Schuppen. Mit diebischer Freude führt er mir den Gong vor. Ich bin danach fast taub. In Pralinenschachteln hat Steffen die Uhren der Menschen gesammelt, die das Dorf für immer verlassen haben. Goldene, silberne, Taschenuhren packt er aus. Sie sind stehen geblieben. „Aus dem Fenster haben sie sie geschmissen, einfach weggeworfen. Da hab ich gesagt, gebt sie lieber mir“, sagt er. Hunderte bewahrt und pflegt er seitdem sorgsam. In den vergangenen Jahren sind kaum noch welche dazu gekommen.

Ich stöber in den Gesangs- und Gebetbüchern, die er aus seinem Schrank holt. Seit Jahrzehnten führt der alte Mann Tagebuch über jeden einzelnen Tag in seinem Dorf. Kurze Eintragungen auf Russisch: welche Temperatur herrschte, was es zu essen gab, was auf dem Acker wuchs, wer gestorben ist, wer geboren wurde, wann er sich mit seiner Frau gestritten hat, wer wegzog. Er spielt auf seinem Akkordeon. Ich sitze still und weiß nicht, was noch zu fragen oder zu sagen.

Nach dem Mittagessen am Nachmittag schlafe ich lange. Gute Luft, gutes Essen. Ich fühle mich wohl. Olga zeigt mir ihre Kaninchen, es sind auch Junge dabei. Sie ist Geschichtslehrerin. Ihren Schülern hat sie den Auftrag gegeben, über die Geschichte von Neudatschino Hausarbeiten zu schreiben. „Man muss doch wissen, wo seine Wurzeln liegen. Was ist denn der Mensch, wenn er nicht weiß, wo er eigentlich lebt“, sagt die Zugezogene. Sie kam vor 14 Jahren in das deutsche Dorf. In ihrer Schule hat sie ein Museum eingerichtet.

Written by Christina

August 5th, 2008 at 5:40 pm