Stimmungsschwankungen

“Well, what if there is no tomorrow? There wasn’t one today.”

28. Juli

10 comments

Montag

Habe heute Geburtstag, werde 29 und fühle mich wie auf einer kleinen Jolle im Stillen Ozean; kein Wind geht, die Sonne steht am Himmel und ich schwitze und fühle mich unendlich einsam. Meinen Geburtstag habe ich bisher noch nie allein in der Fremde unter Fremden zugebracht. Also halte ich mich fest an meinem Block und meiner Kamera und gehe ins Museum – Beschäftigung lenkt ab.

Früher waren die zwei Räume eine Kantine für die Schüler, heute sieht es darin aus, als hätte die russlanddeutsche Oma ihren alten Krempel abgeladen, um sich endlich eine neue Waschmaschine in die Holzhütte stellen zu können. Eine Kinderwiege, Waschbretter, Bilder, eine Kamera, eine Maschine zum Buttern, hölzerne Koffer, Nostalgie in dem einen Raum. Ein kleines Modell, wie die erste Siedlung in Neudatschino ausgesehen haben mag, im zweiten Raum, dazu dann noch Bibeln und Gesangsbücher, auf Deutsch, auf Russisch, handgeschrieben oder gedruckt, noch mehr Fotos und ein sehr cooles Buch über die richtige Erziehung eines Pioniers.

Helene ist auch wieder da. Sie will zu Hause in Deutschland erzählen können, woher sie kommt und stöbert deswegen ein bisschen. Wir stöbern gemeinsam. Das Schulgebäude um uns herum wird derweil saniert, in der Luft hängt der beißende Geruch von Lack.

Will eine Torte kaufen vor dem Mittagessen, um meiner Gastfamilie und irgendwie auch mir selbst eine Freude zu machen. Der einzige Tante-Emma-Laden im Ort hat bis um drei geschlossen. Trabe nach Hause und offenbare mich Olga. Die schimpft mit mir, weil ich nicht eher was gesagt habe. Ich mache Salat und bin lieber ruhig. Nach um drei kaufe ich mit der Tochter des Hauses ein. Sie schenkt mir eine Plüschmaus. Ich besorge Schampanskoje, eine Torte gibt es nicht im Lädchen.

Mit Helene zum Friedhof. Sie will das Grab ihrer Oma suchen, ich will nur mal gucken. Der Friedhof im Wald zugewuchert und wie nicht benutzt gäbe es nicht die frischen Gräber. Wir staksen durch das hohe Gras. Ich denke an Zecken und kämpfe gegen Mücken – heute abend Körperkontrolle, jeder Zentimeter, nehme ich mir vor. Und es ist ruhig, richtig, richtig ruhig. Birken rauschen, sonst nichts.

Wir finden das Grab und gehen langsam wieder zurück ins Dorf. Begehen noch die vier Wege, die der Ort sein eigen nennt. Überall Kühe oder Schafe und ein paar Ziegen. Leute sitzen auf Bänken vor ihren Häusern, Kinder gehen zur Wegkreuzung, um dort auf das Vieh zu warten. Ein Hirte treibt die kleine gemischte Haustier-Herde jeden Abend von der Weide nach Hause.

Zur Feier des Tages wieder Wäsche in der Banja. Diesmal kleckere und pansche ich, was das Zeug hält. Auch die Haare wasche ich mir. Das Wasser in Neudatschino ist weich und hat, wenn man es trinkt, einen leichten Nachgeschmack von Soda. Ich brauche keine Haarspülung, aber irgendwie bleibt trotz Spülens und Spülens das Gefühl von Restseife auf der Haut und in den Haaren.

Auf dem Tisch steht eine Torte. Ich heule fast. In der nächstgrößeren Stadt, in Tatarsk, hat Wladimir die Sahnebombe mit gelben und rosa Zuckerröschen besorgt. Erstmals seit ich in Russland bin, spreche ich einen Toast. Wir trinken Schampanskoje und ein bisschen Wodka. Später noch Filmabend bei einer Freundin von Tatjana.

Written by Christina

August 7th, 2008 at 7:29 am

10 Responses to '28. Juli'

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  1. 29? Boa! Alles GUTE nachträglich.

    Joachim aus Halle

    7 Aug 08 at 07:57

  2. dankeschön. und ich bitte darum, nicht weiter auf dem alter herumzureiten. die häufigste reaktion von russischer seite auf die erwähnung meiner bereits so sehr vorangeschrittenen jahre: große augen, kurze irritation und dann der satz „na für 29 hast du dich doch ganz gut gehalten.“ herzlichen dank.

    Christina

    7 Aug 08 at 08:13

  3. Was ihr Frauen nur immer mit eurem Alter habt?! In diesem Alter werden Frauen doch erst richtig interessant. Nachträglich alles Gute auch von mir.

    Bardamu

    7 Aug 08 at 09:15

  4. das Alter ist nicht so wichtig – die Lebenswelt macht den Unterschied (Altersweisheit ;-))

    Joachim aus Halle

    7 Aug 08 at 09:32

  5. jaja, das sagen sie alle. danke an bardamu für das kompliment und die glückwünsche. ich finde den gedanken, in einem jahr schon 30 zu sein, trotzdem nicht sehr erquickend. aber ich hab ja jetzt ein jahr zeit, mich damit abzufinden.

    Christina

    7 Aug 08 at 13:02

  6. Hey, guck mich an! seh ich so alt und verbraucht aus, daß du vor der 30 Angst haben mußt? (sag jetzt bloß nichts falsches!)
    Ich merke keinen Unterschied, dumm rumkichern tut man dann immer noch 😀

    claudi

    7 Aug 08 at 14:04

  7. du natürlich nicht. und das mit dem rumkichern und unvernünftig viel bier trinken stimmt auch – aber das besagt ja nicht, dass ich auch so gute gene habe 😉

    Christina

    7 Aug 08 at 14:13

  8. Auch von mir, Christina, nachträglich alles Gute !!!

    maria

    7 Aug 08 at 23:50

  9. dankeschön 🙂

    Christina

    8 Aug 08 at 17:00

  10. Bitte gern. Und ich mein das sogar ernst.

    Bardamu

    8 Aug 08 at 19:59

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