Stimmungsschwankungen

“Well, what if there is no tomorrow? There wasn’t one today.”

29. Juli

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Dienstag

Ziehe um von meiner Direktorin zu einer waschechten Baptistenfamilie. Ich packe meine Sachen nicht, weil es mir nicht gefällt oder weil ich in abklingender Geburtstagsverzweiflung doch noch zu Gott gefunden hätte – hier geht es ganz allein darum meine Neugier zu stillen. Olga ist ein wenig bedrückt am Morgen, ich auch. Trotzdem: Mit dem Rucksack auf dem Rücken wandere ich fünfzig Meter die Straße hinunter hinein in eine andere Welt.

Irina Schellenberg kocht gerade, ihr einjähriger David hängt ihr als sabbernder Barock-Engel am Rockzipfel und freut sich. Die beiden Töchter Emma, 16 Jahre, und Melita, 11 Jahre, machen sauber oder fangen Fliegen mit der Klatsche. Sohn Artur, 13 Jahre, arbeitet im Schuppen, seine Schwestern Irina, 6 Jahre, und Marina, 8 Jahre, – sie könnten Zwillinge sein – spielen in ihrem Zimmer. Zum Anfreunden flechte ich ihnen Zöpfe ins Strohblone, lange Haar. Das kommt gut an, glaube ich, ich verstehe nämlich kaum, was sie mir zu sagen versuchen. Altes Plattdeutsch ist wie Kaugummi in meinen Ohren. Die weiblichen Mitglieder des Haushalts tragen Röcke und ihr Haar lang.

Schäle Gurken, um mir nicht zu sehr wie ein Eindringling vorzukommen. Gemeinsames Essen, Vater Heinrich spricht ein Tischgebet. Bei Tisch wird nicht gesprochen, nur, wer gefragt wird, gibt Antwort. Heinrich ist Gemeindevorsteher der Baptisten, ein freundlicher, bisschen steifer Mann. Seine Frau, dick mit großem, naivem Blick, ist die Frau des Gemeindevorstehers.

Sie verkauft Honig aus eigener Imkerei im Hof, schenkt ihn kellenweise aus großen Milchkannen in die Dreilitergläser von Onkel Pjotr, der sich altersgebrechlich auf einem Holzstuhl niederlässt, um ihr dabei zuzusehen. Onkel Pjotr hätte gern den gelberen Honig aus Donik. Keine Ahnung, wie die Pflanze übersetzt heißt. Der Honig schmeckt herb-süß, ist grün-gelblich klar, ich könnte ewig naschen.

Kein Fernseher, kein Computer im Haushalt, das Radio läuft nicht. Seltsam ruhig, aber nicht still. Irina, die Mutter fängt Fliegen mit der Klatsche.

Treffe mich mit Helene und ihrer Familie drei Häuser weiter. Sie, ihre Schwestern und deren Kinder spielen im Hof. Die beiden Kleinsten setzen nach Bedarf Pfützen in den trockenen Sand. Essen frische Melone und saure Kirschen.

Löffelkuchen bei Schellenbergs – sowas wie Eierkuchen. Wir essen den pfannenfrischen Fladen direkt von der Tischplatte, tunken in Honig, Zucker oder Himbeermarmelade. Nach dem Essen erzählt Marina – mit mir spricht sie Hochdeutsch -, ihr Mann habe zwei Jahre lang um sie gefreit. In der Nähe von Moskalenki hat sie gelebt. Als sie 20 ist, kommt Heinrich ins Dorf, sieht sie und hält um ihre Hand an. Sie bittet um Bedenkzeit. Zwei Jahre lang lässt sie ihn warten, betet und will wissen ob er der richtige Mann für sie ist. Gott sagt ja und bald darauf heiraten sie. „Er hat mich so viel Liebe gelehrt“, sagt sie und weint dabei ein bisschen.

Beim Besichtigen des Stalls – drei Kühe, ein paar Schweine – rutsche ich aus und trete in die Güllerinne. Es stinkt.

Written by Christina

August 11th, 2008 at 12:03 pm

One Response to '29. Juli'

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  1. Scheiße am Schuh bringt Glück!

    Bardamu

    12 Aug 08 at 09:40

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