Stimmungsschwankungen

“Well, what if there is no tomorrow? There wasn’t one today.”

30. und 31. Juli

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Mittwoch und Donnerstag

Wenn ich ganz ehrlich bin: Mir ist langweilig. Im Haushalt gibt es weder Computer noch Fernseher. Mein Buch habe ich so gut wie ausgelesen und außer Bibeln und bibelergänzender Literatur steht im Baptistenregal nicht viel. Irina spielt mit ihrem Jüngsten in der Küche, verkauft ab und zu Honig und sitzt manchmal auch einfach nur auf einem Stuhl und beobachtet, was die anderen so machen. Dann setzt sie sich und David ins Auto und sie fahren zur Heuwende auf einen anderen Hof.

Dor schaukelt Irina mit ihrem Sohn auf dem Schoß und wartet auf ihren Mann. Sie reden kurz und wir fahren in den Wald – nachschauen, ob die Bienenstöcke noch voll besetzt sind. Das große Bienensterben scheint in Neudatschino noch nicht angekommen zu sein. Hin und wieder nur versuchen einige Stämme, auszubüchsen und bauen ein Nest auf dem nächst gelegenen Baum. 50 Holzkisten stehen auf zwei Wagen, es wimmelt und summt und Irina hält respektvollen Abstand.

Auf dem Heimweg erzählt sie mir, wie sie sich mit ihrem Zukünftigen damals das erste Mal in der Wohnung ihrer Schwester getroffen hat. Die Schwester sei verhindert gewesen. Heinrich und Irina sollten dort aber in übernachten. Es war Winter und vor lauter Aufregung schlief die junge Frau dann allein in ihrer Wintermontur auf dem Sofa. Am nächsten Morgen sei alles voller Daunen von ihrer Jacke gewesen. Irina lacht. Junge Frauen müssen anständig bleiben bis zur Eheschließung sagt sie. Zum Beispiel versteht sie auch nicht, wie ihre Tochter jetzt in der Schule Texte interpretieren soll, in denen es um Ehebruch und so etwas ginge – moralisch sei das doch nicht.

An der Hauptstraße sieht sie ihre Schwägerin im Garten arbeiten. Sie hält und über den Gartenzaun berichtet sie, was sie erst vor wenigen Stunden am Telefon erfahren hatte: Zwei schwere Autounfälle in Deutschland. Einer Frau wurde der Kopf von Verkehrsschildern abgetrennt, überhaupt sei sie wohl sehr zerstückelt gewesen. Beim zweiten starb ein älterer Mann und ein Freund seines Neffen. Die beiden Frauen essen kleine, saure Äpfel und wundern sich über die heutige Zeit. Ich gehe langsam in Richtung Kolchose. Mein Ziel: Unbeobachtet eine Zigarette rauchen. Es klappt.

Am Abend besuchen wir die Bibelstunde. Ich darf eine Frage stellen: Warum tragen sowohl die Frauen der Mennoniten als auch Baptisten die Haare lang? Gute Frage sagt Gemeindevorsteher Heinrich und sucht in der Bibel nach der passenden Erklärung. Er findet sie unter Matthäus. Ich kann sie gerade nur sinngemäß wiedergeben: Frauen sollen ihr Haupt ungeschoren zur Ehre des Mannes und Gottes tragen, das Haar wie einen Schleier. Bei Gelegenheit suche ich die Textstelle heraus.

Es ist spät und wir besuchen noch die Schwester Heinrichs, die Geburtstag hat. Irina schenkt ihr eine Kerze und eine Tafel Schokolade. Zur Überraschung stellt sie sich unter das Fenster ihrer Schwägerin und singt ein Plattdeutsches Geburtstagslied. Früher in ihrer Familie haben sie das immer so gemacht. Sie hat eine schöne Stimme, die da in die Nacht klingt.

Am Donnerstag, dem Tag meiner Abreise, besuche ich noch einmal den Uhrmacher. Wir klettern auf den Glockenturm. Von oben sehe ich das Dorf, ein lautes „Klong“ schubst mich beinahe von der kleinen Plattform. Abraham Steffen hat wieder am Geläut gespielt und freut sich über meine Reaktion. Vier Hauptstraßen, ein paar Höfe, Holzhäuser, Weiden und Wald. Ein Moped knattert die Hauptstraße entlang. Das Dorf scheint aus der Zeit gefallen.

Jakob Pankratz holt mich ab. Wir fahren zusammen nach Tatarsk. Die Stadt wirkt immer noch trostlos: Verfallene Plattenbauten, kaputte Straßen. Alles Perestrojka, sagt Jakob, früher gab es hier Industrie, Rüstungsindustrie und heute – nichts mehr. So sieht es auch aus.

Im Zug treffe ich Studenten, die wissen wollen, was ich von der Antifa halte. Ich muss mich kurz sammeln. Dann bin wieder ganz da im Hier und Jetzt.

Written by Christina

August 19th, 2008 at 12:03 pm

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