Stimmungsschwankungen

“Well, what if there is no tomorrow? There wasn’t one today.”

Brief Nummer 1

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Keine Perle am Fluss Irtysch

In Omsk zu landen, ist eine Erleichterung. Der dicke Russe mit kargem Haarwuchs in der ersten Reihe muss sich hinsetzen und endlich die Stewardess in Ruhe lassen. Ein paar Minuten bevor das Signal zum Anschnallen aufleuchtete, hat er sie noch angeschrien. Sein Cognac war nicht gut genug, zu teuer, was auch immer. Ein älterer Herr mit stärkerem Haarwuchs und Goldkettchen war eingeschritten. Beinahe hätte es eine Schlägerei vor dem Tor zur ersten Klasse gegeben. Mit leisem Bling machte der Pilot dem ein Ende. Entnervt schubst die Stewardess jetzt ihr Wägelchen den mittlerweile schrägen Gang hinauf. Die Flugzeugheizung in der alten Boeing bollert. Ich schwitze und überlege, was ich noch ausziehen kann, ohne die Ruhe im Luftraum zu gefährden.
Es ist Mitte September. Von diesem Tag an werde ich ein Jahr im sibirischen Omsk verbringen. Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet. Kälte und Schnee? Bären und Wölfe? Real existierende graubraune Sowjet-Trostlosigkeit? Alles wie zu Hause nur auf Russisch? Freunde und Verwandte warnen mich, sind besorgt bis verständnislos. Und ich selbst habe, das muss ich mir in diesem Moment zu meiner eigenen Schande eingestehen, keine blasse Ahnung.
Unter mir taucht das nachmittägliche Omsk auf. Ich sehe: Schlote, Fabriken, goldene Kuppeln, knallblaue und smaragdgrüne Dächer, hohe Neubauten und Holzhäuschen wie Gartenlauben. Ein breiter Fluss mit sandigem Ufer schlängelt sich durch dieses Sammelsurium. Der Irtysch. Der kleinere Om vereint sich hier mit dem breiten Fluss. Dort, wo sie zusammen finden, ist das Wasser sehr, sehr dunkel. Im Internet kann man sich das auf Satellitenbildern noch genauer anschauen. Sehr gesund sieht das nicht aus.
Omsk, sibirische Stadt hinterm Ural. Mit mehr als einer Million Einwohnern siebtgrößte Stadt Russlands. Südlicher als Moskau und Sankt Petersburg gelegen. Östlicher als alles, wo ich jemals war. Früher ist selten jemand freiwillig nach Omsk gezogen. Gegründet wurde die Stadt zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Bastion, gegen die zahlreichen wandernden, dabei nicht immer friedlichen Völker Südostasiens. Omsk war damals so etwas wie die Hauptstadt Sibiriens. Eine Hauptstadt mit zweifelhaftem Ruf: Mit Beginn seiner Herrschaft schickte Zar Nikolaus zuerst die Anführer der Dekabristen, später den ihm unliebsamen russischen Dichter Dostojewski in die Omsker Verbannung. So viel Protest und Kultur fand sich später nie wieder in der sibirischen Steppe. Heute gibt es hier ein paar kleine Theater und eine ruhige Universität. Viel wichtiger als die Kultur aber ist die Industrie: erdölverarbeitend, Traktoren und Busse bauend, Lebensmittel produzierend. Unter anderem haben sich hier auch eine Brauerei und eine Bäckerei niedergelassen, die sich dem deutschen Reinheitsgebot und deutschen Rezepten verpflichtet sehen.
Abnehmer für diese russisch-deutsche Wertarbeit finden sich. Hinterm Ural leben unzählige Menschen mit deutschen Wurzeln. Ihre Vorfahren kamen, ganz in der Tradition Dostojewskis, nicht freiwillig nach Sibirien. Die meisten noch vor Beginn des deutschen Feldzuges gegen die Sowjetunion. 1941 ließ Stalin etwa 800000 Russlanddeutsche als „innere Feinde“ vom europäischen Teil der Sowjetunion in die unwirtlicheren Gegenden Sibiriens und Zentralasiens deportieren. Bestimmungsorte der Verbannung unter anderem: Nowosibirsk und Omsk.
Mit der politischen Wende Anfang der 90er Jahre packten viele der ehemals Deportieren und deren Nachkommen ihre Koffer. Deutschland ihr Ziel. Mehr als zwei Millionen Deutschstämmige aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion leben dort heute nach Angaben der Landsmannschaft der Russlanddeutschen. Andere haben sich entschieden, zu bleiben. Sie gründeten Kreise. Etwa 22000 Russlanddeutsche wohnen beispielsweise im Deutschen Nationalkreis Asowo unweit von Omsk.
Eine Erklärung nicht ohne Anlass – ich werde nämlich in Asowo arbeiten. Allerdings nur einen Tag in der Woche. Bei einer zehnseitigen Wochenzeitung mit einer deutschsprachigen Seite. Die Seite und der Titel „Ihre Zeitung“ sind wohl das Deutscheste an diesem Blatt. Die übrigen Tage der Woche verbringe ich in der Redaktion einer Zeitschrift für junge Russen, die Deutsch lernen wollen. Selten habe ich so viel über mein Land und seine Macken, meine Nationalität und Sprache nachgedacht und gesprochen wie in den vergangenen Wochen.
Das fing schon im Flieger an: Olga und Anatol sitzen neben mir. Ein älteres Ehepaar, heute wohnhaft in Potsdam, noch immer heimisch in Nowosibirsk. Sie sind auf dem Weg dorthin. „Die Deutschen in Deutschland reden nicht miteinander“, beschwert sich Olga mit rollendem R und krächzendem H. Sie ist eine runde Frau mit roten Haaren und Lippen. „In Potsdam ist mir langweilig. Keine Kultur, keine richtigen Feste“, sagt sie.
In Nowosibirsk besucht das Paar seinen Sohn. Der ist noch nicht verheiratet, verdient aber gut. „Haben Sie schon einen Mann“, fragt sie mich. Ich bin 28 und noch nicht verheiratet. „Kinder auch nicht?“ Armes Mädchen, sagt Olgas hochgezogene Augenbraue. Anatol will nicht so recht verstehen, warum ich überhaupt nach Sibirien ziehe. „Im Sommer ist es dort immer sehr heiß und im Winter sehr kalt“, sagt er. „Vor allem der Winter ist schlimm.“ Sein tiefgefurchtes Gesicht spricht Bände. „Kaufen Sie sich Sachen aus Schafwolle, die halten warm“, rät er mir. „Früher auf dem Dorf haben wir das nur getragen. Die Schuhe aus Filz, die Jacke gefüttert mit Schaf, aber heute“, er zuckt mit den Schultern. „Immer diese neuen Moden.“ In gewisser Weise klingen die beiden wie meine Eltern. In meinen Koffern stapeln sich unzählige, sehr warme Kleidungsstücke, die sie mir vorsorglich eingepackt haben.
Als ich in Omsk lande, scheint die Sonne. Die Leute tragen T-Shirts. Am Transportband warte ich auf Koffer und Rucksack. Ich beobachte die Einheimischen, wie sie ihre sorgsam in mehrere Lagen Klarsichtfolie eingewickelten Taschen einsammeln. Ich wundere mich sehr, habe ich schon am Moskauer Flughafen. Dort gibt es Maschinen mit dicken Rollen durchsichtiger Folie. Um die herum standen dann die Mütterchen und ihre Töchter und Söhne und Enkel und wickelten und wickelten und wickelten. Bis nichts mehr zu erkennen war und nur noch Henkel und Träger wie traurige Strünke aus der luftdichten Verpackung ragten. Heute weiß ich es: Mein Koffer hat Kratzer, mein Rucksack einen Riss. Ihre Taschen sehen immer noch aus wie gerade gekauft.
Willi holt mich ab. Mit Willi, eigentlich Wilhelm Siemers, werde ich nun für ein Jahr zusammen arbeiten. Er ist verantwortlich für die Texte besagter Jugendzeitschrift. Ein Schlaks Mitte 30. Die Sonne blendet mich, als ich versuche, ihm ins Gesicht zu schauen. „Wollen Sie ein Taxi“, raunen Männer mit Schiebermützen uns im Vorübergehen zu. Gefahren zu werden ist in Russland Verhandlungssache. Willi organisiert uns einen weißen Lada. Das Auto ist wie sein Fahrer – alt aber fahrtüchtig. Durch breite Straßen und tiefe Schlaglöcher holpern wir gen Zentrum. Die Sitten sind darwinistisch, der Mann am Steuer glücklicherweise erfahren.
Auch aus der Nähe betrachtet ist Omsk keine Perle am Fluss Irtysch. Alte, rußgraue Plattenbauten verstellen den Blick in den Himmel. Daneben halbfertige Hochhäuser und ganz fertige Hochhäuser. Zwischendrin drängen sich hutzelige, windschiefe Holzhütten wie aus dem Märchenbuch. Ihre grüne, wahlweise blaue Farbe ist häufig verwittert, die Verzierungen nicht mehr vollständig. Sie stehen wie eine letzte Bastion Dorf inmitten der Großstadt. „Da drin wohnen meistens arme Leute“, erklärt Willi. Wie zur Bestätigung schüttet in dem Moment eine alte Frau einen Eimer Wasser auf die Straße. „Da gibt’s kein fließend Wasser und auch nur Plumsklos“, sagt mein Begleiter. Diese alten, einstöckigen Siedlungen waren einmal Omsk. Die Holzhäuser sollen abgerissen werden. Platt gestampft für einen dieser klotzigen Riesen. Mir tut das leid. „Das ist Nostalgie, Folklore“, sagt Willi. „Die Leute hier wollen einigermaßen wohnen, denen ist der Denkmalschutz nicht so wichtig, wie den Deutschen.“
Wir erreichen mein Haus. Man merkt, dass „Schöner Wohnen“ hier noch kein Begriff ist. Es stinkt nämlich. Mit dem Öffnen der eisernen Eingangstür startet das Hochhaus einen unerwarteten, olfaktorischen Angriff auf jeden, der es betritt. Es riecht nach Ausdünstungen, nach Menschen, die es nicht mehr bis zur Toilette geschafft haben, nach durchzechten Nächten und deren Folgen und nach Knoblauch. Wer das durchhält bis der Fahrstuhl kommt, darf weiter gehen. Der Fahrstuhl gibt dann das Sahnehäubchen auf die Geruchstorte. Ich wohne im siebenten Stock.
Morgens scheint die Sonne direkt in mein Zimmer. In der Küche riecht es nach Gas. Seit ein paar Tagen funktioniert meine Heizung. Ich kann sie nicht regulieren, also öffne ich die Fenster. Öko ade. Aber immerhin – ich bin jetzt in Omsk.

Für die Sächsische Zeitung

Written by Christina

Oktober 22nd, 2007 at 12:53 pm

3 Responses to 'Brief Nummer 1'

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  1. Grüße nach Sibirien. Heute haben die Kollegen in Dresden die Geschichte auf die Seite 3 gehoben. Schön, dass der Querverweis zum Blog drunter stand. Werd desöfteren reinschauen. Alles Gute! Oder lieber viel Glück?

    Lausitzer

    2 Nov 07 at 11:47

  2. Hallo Christina,

    liebe Grüße aus Dresden. Ich kann dir nur sagen, der Gestank verschwindet mit der Kälte. 😉

    Kati

    7 Nov 07 at 00:09

  3. Liebste Kati, das beruhigt mich nicht im geringsten. Du hast ja keine Ahnung…! Und von allen Häusern, in denen ich bisher war, stinkt allein meins so schlimm. Das ist doch ungerecht, oder?
    Wie gehts denn ansonsten in Dresden? Du weißt schon – dir und den anderen 🙂

    Christina

    7 Nov 07 at 07:35

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