Stimmungsschwankungen

“Well, what if there is no tomorrow? There wasn’t one today.”

Letzter Brief aus Omsk

one comment

Immer schön den Kopf warm halten

Zurück zu kommen ist schon merkwürdig. Hier geht das Leben weiter, dort geht das Leben weiter und ich befinde mich im zollfreien Bereich dazwischen. Weiter unten gibts den letzten Brief aus Omsk, erschienen in der Sächsischen Zeitung. Er ist die dritte Version dieses Artikels. Als ich schrieb war ich bei meinen Eltern zu Besuch und habe sie vorgeworfene zwei Tage lang kaum gesehen oder gar gesprochen, weil ich versucht habe, ein Jahr in ein paar Zeilen Text zu pressen. Es gibt sicher Schlimmeres – aber das war auch nicht schön. Hier also das Produkt:

Ich habe meinen Flieger nach Hause verpasst. Die Schuld daran liegt eindeutig bei diesem jungen Pärchen, das in Omsk über mir wohnte. „Ist es eigentlich normal, dass Wasser durch die Decke in unser Bad tropft?“, fragt mich Ann-Christin, meine vorübergehende Mitbewohnerin und Nachfolgerin im Amte. Sie wird, wie ich, als Mittlerin für die deutsche Sprache und Kultur in Sibirien und Redakteurin bei einer Sprachlernzeitschrift in Omsk und einer Minderheitenzeitung im russlanddeutschen Nationalkreis Asowo arbeiten.
Gemeinschaftlich legen wir zuerst den See neben der Wanne trocken, dann teilen wir uns auf. Meine Mitbewohnerin rennt im Schlafanzug zum Hauseingang, um von dort zu läuten. Ich positioniere mich, ebenfalls im Schlafanzug, vor der nachbarlichen Tür, um sogleich die Beschwerde anbringen zu können, sollten sie auf mein Klopfen und den Klingelsturm hin öffnen. Es wäre nicht das erste Mal – fremdes Wasser in meiner Badewanne hatte ich etwa zwei Monate zuvor schon einmal. Niemand öffnet. Nach einer Stunde geben wir auf und gehen ins Bett. Über uns schiebt jemand Möbel, das Tropfen hört langsam auf. Es ist morgens um drei.
So ist das eben in Russland: Die Lösung des Problems wird bis zum Finale noch mit ein bisschen Abenteuer und Aufregung angereichert, womöglich um die Zeit nicht lang werden und das erreichte Ziel noch leuchtender in goldenem Siegerlicht erstrahlen zu lassen.
Als ich im September vergangenen Jahres ankam, war ich unsicher. Ich hatte keine Angst – war ja vorher schon einmal in Russland gewesen – aber die Aufregung wühlte sich durch meinen Magen und ich war ständig besorgt, auch nur den kleinsten Fitzel des Anderen, des Neuen zu verpassen. Ich bin in Sibirien, ich bin in Asien – diesen Satz muss man sich mit drei Ausrufezeichen in mein Hirn eingraviert vorstellen – ich konnte es nicht fassen. Nur, Sibirien war gar nicht so anders, flutschte immer durch meine Finger, wenn ich versuchte das Außergewöhnliche zu greifen und in Worte zu fassen.
An meinem ersten Wochenende setzte ich mich in einen Bus und fuhr, fuhr, fuhr durch Omsk und kam mir dabei vor wie ein Pionier im Wilden Osten. Mit jeder Kurve lichtete sich der Nebel in meinem Kopf. Mein erster Eindruck von der Stadt: Omsk ist nicht schön. Der Eindruck hat sich nie geändert. Omsk ist Plattenbauidylle mit Holzhausresten und neoklassizistischen Gebäuden an der Leninstraße, die darum und weil auch gleich ein großes Einkaufszentrum, das Torgowoij Zentr dort angesiedelt ist, gern Zentrum genannt wird. Dort treffen sich auch der Om und der Irtysch, tauschen ihre Schadstoffe aus und fließen dann gemeinsam durch die Taiga in den Norden. Eine Raffinerie am Rande der Stadt produziert klebrigen schwarzen Staub. Die Straßen sind größtenteils löchrig und jedes Mal, wenn der Omsker Regen niederging (als hätte jemand alle Duschen im Himmel aufgedreht) oder der Schnee Ende März endlich taute, stand das Wasser wadenhoch.
Im November hatte ich einen Traum: Ich kaufte schicke, aus natürlichen Rohstoffen hergestellte Weihnachtsgeschenke in kleinen niedlichen Lädchen, in denen die Verkäufer „du“ sagen und dabei lächeln. Mit prall gefüllten Taschen trete ich aus dem letzten Geschäft. Plötzlich stehe ich im Torgowoij Zentr. Um mich herum grellbunte Plasteweihnachtsmänner aus China, glitzernde Nagerfigürchen – man feierte gleichzeitig das chinesische Jahr der Ratte – und Kunststofftannen und Kunststoffblumen als ultimative Deko. Ich erwachte enttäuscht und meine Frustration zog sich noch bis zum Mittagessen.
Es war mit Sicherheit nicht die Stadt und ihr Stil, die ich so gern mochte – Omsk sammelte Sympathiepunkte, weil es entspannt ist. Mehr als 1,5 Millionen Menschen leben dort und es herrscht keine Hektik, stattdessen das Gefühl, in einer viel zu groß geratenen Kleinstadt zu wohnen. „Ein Jahr in Moskau zählt dreifach“, hatte die ehemalige Russlandkorrespondentin der ARD Gabriele Krone-Schmalz einmal gesagt. Für Omsk gilt: Ein Jahr ist ein Jahr – mit zwei Jahreszeiten, einem heißen Sommer und einem sehr kalten Winter.
Weil ich keine Mütze trug, schimpften mich im Winter Damen mittleren Alters auf der Straße aus. In der Marschrutka, eine Art Sammeltaxi, bot mir eine Frau an, ihre Mütze zu nehmen, sie trug zwei übereinander. Sie wollte mich dann zum nächsten Markt begleiten, um sicher zu gehen, dass ich mir auch wirklich eine eigene kaufte. Ich konnte ihr glaubhaft zu verstehen geben, dass ich bereits ein hübsches Exemplar besitze, dieses allerdings zu Hause vergessen hatte.
Meine Kollegin Lena erzählte mir eines Tages von einem Vorfall, den sie beobachtet hatte: Sie fuhr mit der Marschrutka ins Zentrum, vorbei an einem Mann, der unter seinem Auto lag und es offenbar reparierte, jedenfalls bewegten sich seine Beine. Auf dem Rückweg bewegten sich die Beine des Mannes nicht mehr, stattdessen standen Miliz und Krankenwagen nun beim Wagen. Der Mann war erfroren. Warum ihn denn keiner darauf anspricht, was er bei minus 20 Grad unter seinem Auto zu suchen hat, fragte ich Lena. Die zuckte nur mit den Schultern: „Das ist eben Russland.“ Vermutlich hat sich niemand gekümmert, weil nicht zu sehen war, ob der Mann eine Mütze trug.
Es liegt alles dichter beieinander, nicht nur in Omsk: Leben und Tod. Armut in den Holzhütten ohne Wasseranschluss, mit Pumpe auf der Straße oder bettelnde Invaliden in der Unterführung und neuer Reichtum, der sich äußert in stattlichen Mieten oder Kaufpreisen für Wohnungen egal in welchem Teil der Stadt, in Hummer-Geländewagen, für die die rote Ampel nicht gilt oder Cafés, Bars, Nachtclubs und Restaurants, die sich im Preis nicht von denen in Berlin unterscheiden.
Wollte ich meine Freundin Aygul zum Beispiel treffen, fuhr ich meistens zu ihr. Ich hatte einmal den Fehler gemacht, ihr ein Café in der Stadt vorzuschlagen. Dort trank sie dann anderthalb Stunden lang an ihrem Wasser. Aygul, 24 Jahre jung und Lehrerin, lebt noch immer bei ihren Eltern. Sie rechnete mir irgendwann vor: „Ich verdiene 3000 Rubel im Monat“, umgerechnet sind das rund 80 Euro, „davon zahle ich meinen Eltern etwas für Miete und Essen, zahle das Monatsticket für den Bus. Ungefähr 1000 Rubel bleiben für mich selbst.“ Sie träumt davon, irgendwann einmal eine eigene Wohnung zu mieten, zu verreisen, schick essen zu gehen, so zu leben, wie sie das bei einem Praktikum in Deutschland erlebt hat. „Das System ist ungerecht“, sagt sie. „Aber so ist das eben in Russland.“
Micha, der eine hübsche Zukunft als Ingenieur in der Raffinerie vor sich hat, engagiert sich bei der oppositionellen Jabloko-Jugend und will was ändern. „Mehr Demokratie brauchen wir“, sagt der 19-Jährige. Weit sind er und seine Freunde bisher nicht gekommen. Vielleicht zwanzig von ihnen hatten sich am 15. April vergangenen Jahres versammelt, erzählte er mir, um auch in Omsk einen „Marsch der Unzufriedenen“ zu veranstalten. Sie trafen sich unweit des Denkmals, das einen geschlagenen, zerfurchten, aber ungebrochenen Dostojewskij zeigt. Ein Mann kommt auf die Jugendlichen zu. „Wenn ihr losgeht, werdet ihr nicht weit kommen“, soll er zu den Jablokos gesagt haben. Die rollten ihre Plakate aus und machten sich dennoch auf den Weg. Es gesellten sich weitere junge Leute dazu, die ebenfalls Plakate ausrollten, nur dass sie auf denen die Politik der Putin-Partei „Einiges Russland“ und ihre Liebe zur Heimat feierten. Der oppositionelle Kern dieses Marsches war unsichtbar, sowohl für die Menschen als auch für die Medien. „Die da mit gelaufen sind, waren bezahlt“, sagt Micha. „Für 100 Rubel finden sich schnell ein paar Studenten. So ist das eben in Russland.“
So ist das eben in Russland – ständig musste dieser Satz als Begründung für die unerklärlichen Phänomene der russischen Politik, Kultur oder Seele herhalten. Warum etwas ist, wie es ist – es ist eben so. Man kann erdulden und hoffen so wie Aygul oder dagegen angehen so wie Micha oder man kann sich durchwurschteln und das Beste daraus machen so wie meine Kollegin Lena und die meisten ihrer Landsleute. Ich war nur der staunende Ausländer, Beobachter für ein Jahr.
Im russlanddeutschen Asowo habe ich gesehen, wie die teuren Ideen der Entwicklungshilfe durch Korruption und Vetternwirtschaft ausgehöhlt werden. Da leben Menschen seit mehr als 15 Jahren in Blechcontainern, weil angeblich nicht ausreichend Wohnraum vorhanden ist. Nicht weit davon stehen schicke Villen für wichtige Vertreter des Kreises, gebaut auch mit deutschen Steuergeldern – „Tal der Bettler“ wird diese Siedlung genannt. „Hier will man Ärzte und Anwälte, Leute mit Geld“, sagte mir Larissa, eine Redakteurin des Kreisblattes, bei dem ich gearbeitet habe. „Die kriegen gleich eine Wohnung, die müssen nicht erst in einem Container warten.“ Über dieses Thema hat sie nie geschrieben, das Sagen bei der Zeitung hat ja auch nicht der Chefredakteur, sondern der Landrat. „So ist das eben in Russland“, sagt Larissa und lacht. Schon wieder dieser Satz.
Aber Russland war auch schön, aufregend, anders. Ich bin gereist und habe gefeiert, es gibt noch kein Rauchverbot in Restaurants. Ich wurde freundlich aufgenommen und habe Menschen kennen gelernt, die ihr Land lieben ohne Nationalisten zu sein, die zeigen wollen, dass es aufwärts geht. Offene Menschen, die interessiert sind an allem, was von außen kommt.
Auf einem kleinen Markt kaufte ich jedes Wochenende frisches Obst und Gemüse – solches, das wirklich noch danach schmeckte. Eine der Verkäuferinnen legte mir immer ein halbes Kilo frischen Krautsalat zurück. Als wir uns ein bisschen unterhielten und ich erzählte, ich sei aus Deutschland, sagte sie, sie habe in ihrer Schulzeit auch Deutsch gelernt. Dann rezitierte sie „Die Loreley“ von Heinrich Heine – vollständig. „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …“, für einen Moment war ich sprachlos.
Seit kurzem bin ich zurück und immer noch nicht wirklich angekommen. Vor dem inneren Auge erscheinen mir meine Erinnerungen wie durch eine Milchglasscheibe. Als wäre ich nicht da gewesen, hätte das Jahr nicht selbst dort verbracht.
Ich habe als noch einen Flieger nach Hause erwischt. Den ersten Check in hatte ich ja verschlafen, weil meine Nachbarn in dieser Nacht ihre Klospülung nicht im Griff hatten. Beinahe heulend stand ich am Flughafen. Der Verantwortliche der Fluglinie schaute mich verständnislos an und sagte: „Ich verstehe gar nicht, was Sie haben, unser nächster Flug geht nur zehn Minuten später als der erste. Fliegen Sie doch einfach da mit.“ Und aus kompliziert wurde unkompliziert. So ist das eben auch in Russland.

Written by Christina

September 23rd, 2008 at 11:47 am

One Response to 'Letzter Brief aus Omsk'

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  1. Sehr geehrte Frau Wittich,

    durch eine Recherche im Internet bin ich auf Ihren „Letzten Brief aus Omsk“ gestoßen. Abgesehen davon, dass er sich äußerst spannend lesen lässt, finde ich ihn ziemlich treffend für manche Befindlichkeiten in Russland und auch einsichtig.
    Nun meine Frage: Vom 23. bis zum 29.11.08 findet eine Informationsrreise nach Omsk für Fachkräfte und Multiplikatoren in derJugendhilfe statt, welche von der Deutsch-russischen Jugedndstiftung finanziert und von der Otto-Benecke-Stiftung organisiert wird.Ich habe die Ehre diese Reise zu begleiten. Für diese Reise wird auch ein Reader angeboten. Deshalb möchte ich Sie fragen, ob wir für diesen Reader Ihrem „Brief“ verwenden dürften.
    Für Ihre Rückmeldung wäre ich Ihnen sehr dankbar.

    Mit herzlichem Dank und schönen Grüßen,
    Olga Marksteder

    Olga Marksteder

    26 Okt 08 at 20:55

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