Stimmungsschwankungen

“Well, what if there is no tomorrow? There wasn’t one today.”

Brief aus Asowo

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„Wenn ich die Augen schließe, bin ich in Deutschland“ 

Erna Karlowa Korbmacher ist aufgeregt. „Ach, ein Foto“, sagt sie und wird rot. „Da muss ich mir doch etwas Hübsches anziehen.“ Mit kleinen, flinken Schritten trippelt die alte Dame durch das Wohnzimmer. Doch ganz leicht sieht man das Humpeln alter Leute auch an ihr.

Erna Karlowa Korbmacher in ihrer Küche.

Ein breites, niedriges Zimmer. Samtige Couches nebeneinander, bunt bemustert, Kissen, Decken darauf gestapelt – wer sich da hinein setzt, versinkt wahrscheinlich tief im bunten Plüschmeer. Ein großer Fernseher in massiver Anbauwand. Dahinter, winzig, das weiß-blaue Zimmerchen der 80-Jährigen.

Ein Bett, steife, weiße Kissen mit tiefem Knick in der Mitte, die Bettdecke ordentlich glatt gezogen. Gegenüber ein Schrank. Davor nun steht Erna Karlowa und zieht sich hastig um. Raus aus der Kittelschürze. Das Kopftuch abgestreift. Die gute rote Bluse unter das schwarze Kleid gezogen. Mit den Händen noch einmal die Haare zurecht gestreift. Den Zopf gerade gerückt. Frau Korbmacher strahlt.

Sie muss einmal ein sehr hübsches Mädchen gewesen sein: Die Rundungen am richtigen Fleck, dichtes, dunkelblondes Haar, blaue Augen und ein spitzbübisches Lächeln. Von der einstigen Schönheit ist heute vor allem dann etwas zu erkennen, wenn Erna Karlowa lächelt. Silberne Zähne glitzern im Mund. Sie ist eben auch nicht mehr die Jüngste. Wenn sie redet, klingt es wie eine Mischung aus Bayrisch und Jiddisch. „Verstehen Sie mich überhaupt“, fragt sie. Natürlich. „In Deutschland war das eine ganz andere Sprache, die die da gesprochen haben“, erklärt sie. Vor drei Jahren erst hat sie versucht, sich ihren Lebenstraum zu erfüllen: Einmal nach Deutschland reisen. Vielleicht dort bleiben und sterben. Da war sie 77 Jahre alt. Geblieben ist sie nur sieben Monate. Heute sitzt sie wieder an ihrem Küchentisch in Asowo. „Deutschland war nicht meine Heimat“, sagt sie und knautscht ein Taschentuch in ihren Händen. „Ich habe es versucht. Aber ohne meine Familie konnte ich nicht sein.“

Ganz klein und schon nicht mehr so gut zu Fuß stand sie vor drei Jahren am Omsker Flughafen. Ihr Flug war kein Direktflug, in Moskau stieg sie um. Die großen Koffer gepackt mit dem Nötigsten, was man in der vielleicht neuen Heimat so gebrauchen könnte: Warme Sachen, die schöne rote Bluse, die Kittelschürze, der lange Rock. Bilder von der Familie. „Wir kommen nach“, haben die Kinder gesagt. Erna Karlowa wollte in Bayern auf sie warten. Dort, in der Nähe von München, war sie dann trotzdem allein. Die drei Söhne, ihre Tochter durften nicht einreisen. Sie sprechen kein Deutsch. Konnten, durften, wollten es nicht lernen.Mutter Korbmacher beherrscht noch, was sie in ihrer Kindheit gelernt hat. Bis zur fünften Klasse lebte sie mit ihren vier Geschwistern im Saratowskojer Oblast an der Wolga. Der Unterricht war auf Deutsch. Ihre Mutter sprach Deutsch mit ihren Kindern, die Kinder untereinander unterhielten sich nur in der Sprache ihrer Vorväter. Nicht in der des Landes, in dem sie lebten. Dann brach der Krieg aus und Familie Korbmacher wurde nach Kasachstan umgesiedelt. 1937 starb der Vater. Auch die Mutter überlebte den Krieg nicht. Die Kinder wohnten bei Fremden auf den Dachböden. „Eine schlimme Zeit war das, eine schlimme“, sagt die 80-Jährige. Sie will sich nicht weiter erinnern. Das Russische war den Geschwistern damals fremd, das Kasachische noch mehr. Das Deutsche war verboten. Trotzdem auch Gutes: „Ich saß gern mit meiner Schwester auf der Bank vor dem Haus und wir haben uns auf Deutsch unterhalten und überlegt, was wir schon alles vergessen haben“, sagt Erna Karlowa. „Wenn es uns wieder einfiel, mussten wir lachen.“

Später bekam sie selbst Kinder. Deutsch wollte sie mit ihnen reden. In der Schule wurden die Wolgadeutschen deswegen gehänselt. Ihr ältester Sohn Wladimir beschwerte sich: „Mama, warum sprichst du Deutsch mit uns. Sie nennen uns Faschisten, lass das.“ Also ließ sie es. Nur wünscht sich ihr Junge heute: „Mutter, warum hast du nie Deutsch mit uns geredet.“ Mittlerweile könnten ihre die Sprache gut gebrauchen, wissen aber nur „Bitte“ und „Danke“, „Guten Tag“ und „Auf Wiedersehen“ zu sagen. Nimmt man es genau, ist die alte Frau wieder zurück nach Russland gereist, weil sie die einzige in der Familie war, die die Muttersprache beherrschte.

Es ging ihr nicht schlecht dort unten in Bayern. Sie hatte eine kleine Wohnung für sich. Sie lächelt und zählt auf: „Fließendes Wasser, warmes Wasser aus der Leitung. Die Sonne scheint oft, es ist dort nicht so kalt wie hier.“ Bequem und gemütlich. Und trotzdem wurde sie krank. Zuerst war es nur das Weinen. Sie konnte nicht aufhören, vermisste ihre Kinder. Dann ließ das Augenlicht auf dem linken Auge nach. Ein Nerv war gereizt. Sie wurde operiert an der Galle. Verfiel von Tag zu Tag. Eines Tages sagte die Hausmeisterin zu ihrer alten Mieterin: „Wenn du nicht vorzeitig an Heimweh sterben willst, dann fahr doch zurück nach Hause.“ Und sterben wollte Erna Karlowa noch lange nicht.

Nach sieben Monaten setzte sie sich wieder in den Flieger nach Omsk. Ihre Kinder holten sie ab. Sie wohnt wieder dort, wo sie mit ihrer Tochter und zweien ihrer Söhne schon zehn Jahre lang lebte: Im kleinen blauen Häuschen an der Komsomolskaja. Gänse marschieren vor dem Tor entlang. Im Hof liegen Holzscheite gestapelt. Der Herbst hat bereits Einzug gehalten. In den Blumenkübeln wachsen keine Blumen mehr. In der Diele köchelt das warme Wasser auf dem Herd. „Ich habe versucht, dort zu leben, aber es ist einfach nicht meine Heimat“, sagt die alte Dame als wolle sie sich entschuldigen. „Aber wenn ich abends im Bett liege und die Augen schließe, dann bin ich in Deutschland.“

Erschienen in: Ihre Zeitung, Asowo

Written by Christina

Oktober 24th, 2007 at 7:16 am

3 Responses to 'Brief aus Asowo'

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  1. Das gefällt mir richtig gut!

    Joachim aus Halle

    24 Okt 07 at 16:20

  2. Dankeschön.

    Christina

    25 Okt 07 at 07:34

  3. Da sind ja endlich die Artikel. Hoffentlich bleibt das regelmäßig. Das Lesen macht Spaß, weil man alles schön am inneren Auge vorbeiziehen sieht. Die Fehler gehen natürlich gar nicht.

    Maria

    27 Okt 07 at 19:23

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