Stimmungsschwankungen

“Well, what if there is no tomorrow? There wasn’t one today.”

Wodka

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Lieber Oliver,

da ist sie schon wieder, eine dieser so schwer zu beantwortenden Fragen: “Und wie oft hast du schon im Wodka-Rausch schöne Dinge gesehen? Welche?”, fragst du. Als ob das so einfach zu beantworten wäre. Nicht nur wegen des vorübergehenden mehr oder minder erwünschten Gedächtnisverlustes. Erinnerung wird zudem gern verklärt. Schwierig, schwierig. Auch konnte ich deiner Frage nicht entnehmen, welche Form von Rausch du meintest: schwach, mittel, stark.

Ich hab dann alle drei Formen ausprobiert. An einem Abend mit Block zum Notieren. Ich dachte mir nämlich, ich möchte lieber wahrheitsgetreu antworten. Keine ausgedachten Geschichten von weißen Mäusen und rosa Elefanten, nur damit du eine schnelle Antwort erhältst. Keine Geschichten von russischen Seelen und irreparabler Erblindung. Die ganze Wahrheit, eine ehrliche Antwort. Die sollst du bekommen.

Die Vorbereitungen zum Test zogen sich ein wenig hin. Zuerst einmal musste eine passende Gelegenheit gefunden werden. Ein Fest. Die Parameter Geselligkeit und möglichst viel kostenloser Wodka sind dort gegeben. Solche Feste finden hier, entgegen der gängigen Vorstellung, nicht jeden Abend statt. Ausdauerndes Warten und Festhalten am Plan hatten sich jedoch gelohnt. Ich wurde eingeladen.

Wir waren viele und wir waren guter Dinge. Ich werde vernünftig und kontrolliert sein, hatte ich mir gesagt und gleich am Anfang viel gegessen: Wurst, Kartoffeln, Salate mit Mayonaise, Sauerkraut und Kuchen, Kuchen, Kuchen. Alles schön fettig, der Basis wegen. Saure Gurken und Salzstangen in Reichweite – wegen der Elektrolyte natürlich.

In den gut gefüllten Wanst gieße ich ein kleines Gläschen – 50 Gramm. Mir ist noch nicht ganz klar, weshalb man den Alkohol hier in Masse, nicht in Volumen misst. Beides unlogisch, aber später, ja später, werde ich es sicher begreifen. Also: Wodka, durchsichtige, ölige Flüssigkeit, riecht ein bisschen scharf, lädt nicht zum Genießen ein. Weg damit. Es brennt nicht auf der Zunge, nicht im Hals. Das Gedärm erhitzt sich kurz, gar nicht so unangenehm. Trotzdem wird mir ein bisschen übel. Aber ich sehe nichts Außergewöhnliches.

“Und, schmeckt gut”, fragt mich C. Wir haben gewettet. Es geht hier um meine Ehre. Ich nicke kurz und heftig und versuche mein entspanntestes Lächeln. Er hält mir noch einmal 50 Gramm unter die Nase. 50 Gramm sind nicht viel. Denke ich. Der zweite Wodka, lieber Oliver, ist schon nicht mehr so übel. Immer noch keine besonderen Vorkommnisse. Ich sehe klar.

Naja, ein bisschen lustig werde ich. So tralala und hier erzählen und da Komplimente verteilen. Du musst dir das so vorstellen: Ich hake mich unter bei C. und sage ihm, wie interessant ich seine Studien in Krasnojarsk finde. Ich setze mich neben G. und bewundere ihre Halskette. Ich spreche lange und konzentriert mit M. und schmiede Pläne zur Verbesserung der Weltlage. Wichtige, klangvolle, gut durchdachte Pläne. Heißer Kopf. Ich sehe lauter schöne Menschen. Hübsches Lächeln hier, knackiger Popo dort. Ich bin doch gerade sehr, sehr glücklich und zufrieden.

C. gibt nicht auf. Ich hatte das ein bisschen gehofft. So viel vertrage ich, um ehrlich zu sein, gar nicht. Wer immer nur Lemon-Biere trinkt, kann nicht auf einmal mit den großen Jungs mitspielen. Aber ich kam nicht zurück, will sagen, hatte schon zu tief in den Abgrund geschaut.

So weit es mir möglich ist, diesen Abend zu rekonstruieren, begann ich ab dem sechsten oder siebten Glas flüssig Russisch zu sprechen und mir Musik zu wünschen, die nie gespielt wurde. Ich tanzte trotzdem. Zu klimperigem Russenpop, zu irgendwelchem Technogedudel. Hach, völlig egal. Hier und jetzt war großartig. Und guck mal, diese schönen Menschen teilen sich jetzt auch noch. Unscharfe Schatten wedeln neben mir auf dem Tanzboden. Treppen entstehen aus dem Nichts.

Und Wodka ist so gnädig. Er zieht weiße Schleier über deine Augen, als würde er einen Weichzeichner zwischen die böse Welt und dich schalten. Von da an übernimmt das Väterchen dummerweise auch die Kontrolle. Mich führte es auf sehr glattes Eis. Doch ich hielt mich. Noch. C. dummerweise auch. Allerdings mit ebenso großen Schwierigkeiten wie ich. Wir klammern uns aneinander wie zwei Ertrinkende. Der Schluckauf nimmt uns die Luft. “Ach. Komm. Einer. Geht. Noch”, hickst irgendwer. Natürlich, es ist wieder C., der sich allerdings nicht mehr an seine ihm natürlich gegebenen Formen hält.

Und auch ich werde ganz, ganz klein. So klein und so müde. Es fällt nicht auf, wenn ich jetzt einfach hier sitze und mich kurz erhole. M. findet mich in meiner Ecke. Über ihrem Kopf prangt ein blendend heller Heiligenschein. Ich schließe die Augen und lehne mich an ihren mütterlichen Busen. Warmes Licht umhüllt mich tröstend. Alles ist jetzt nur noch Licht und Schatten und hier ein lachender Mund, da gebleckte Zähne, aufgerissene Augen. Manchmal sehe ich auch gar nichts.

M. setzt mich in ein Auto. Am Fenster ziehen die schlierig-bunten Lichter der großen Stadt vorbei. Lenin winkt vom Sockel. Er kann gerade nicht weg, die anderen verlassen sich auf ihn, da muss er seine Stellung eben halten. Er lächelt milde. Willst du was erreichen, musst du was aushalten können, flüstert er leise in die Nacht. Aus dem Augenwinkel sehe ich: Die andern hören gar nicht hin. Nur der Vladimir Ilitsch und ich wissen das jetzt. Ich habe verstanden und nicke. Dann schlafe ich ein.

Jemand hat mich die Treppe hinauf getragen, ausgezogen und ins Bett gelegt, mein Glas saure Gurken steht unberührt neben dem Kopfende. Die Salzstangen sind verschwunden. Keine Träume.

Am nächsten Morgen, lieber Oliver, sehe ich die Kloschüssel und Reste von Sauerkraut. Einen C. kennt hier niemand. Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden.

Viele Grüße aus Omsk sendet Dir
Deine Christina.

Written by Christina

November 14th, 2007 at 6:35 am

2 Responses to 'Wodka'

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  1. Christina, starke Geschichte, weiterhin viel Spaß, Henning

    Henning

    14 Nov 07 at 21:55

  2. Hallo Christina, freue mich schon auf den nächscten Bericht aus Omsk. Temp.in DD 9°° plus 1,7C, Renate

    Renate Müller

    15 Nov 07 at 09:38

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