Stimmungsschwankungen

“Well, what if there is no tomorrow? There wasn’t one today.”

Brief Nummer Eineinhalb

leave a comment

Wahltag – Zahltag

Es könnten immer Wahlen sein in Russland. Ich stehe im Bus, in der einen Hand zehn Rubel, in der anderen meine Tasche und schaue mich um. Ich suche die Konduktora, die Kassiererin, die sonst immer recht streng nach meinem Fahrgeld fragt. Der Bus schunkelt mit mir. Keine Konduktora in Sicht. Ich falle auf. „Du suchst die Konduktora?“, fragt mich eine Frau im dicken Pelz. Ich nicke und schwanke. „Heute sind doch Wahlen“, sagt ruft eine andere Frau von weiter hinten. „Da fahren alle kostenlos.“ Ich werde angegrient. Eine Ausländerin, die so etwas nicht weiß.

Wahlen also. Erster Advent auch. Ich bin auf dem Weg zur Lutheranischen Kirche am anderen Ende der Stadt, am Ufer des Irtysch. Ein bisschen Weihnachtsstimmung will ich provozieren. Es schneit. Es ist windig. Ich schlittere über einen kleinen Markt. Bude an Bude. Obst, Gemüse, Handtücher, Bettwäsche, Jacken, Handschuhe, Mützen, Töpfe, Tassen, verfrorene Gesichter. Die russische Nationalhymne klingt von irgendwoher. Der pathetische Chor mischt sich mit süßlichem Russenpop aus der Musikbude.

Vor einer Woche noch trötete eine mit Lautsprecher ausgerüstete Marschrutka durch die Gegend um den Bahnhof, spielte russische Schlager und verkündete Putins Plan zur Stärkung Russlands. Edinnaja Rossija. „Kaschmar“, Mist, schimpfte eine Frau auf dem Sitz neben mir. „Die Dummköpfe halten alles auf und ich komme noch zu spät zu meinem Termin.“ Die „Dummköpfe“ waren kaum zu übersehen. Einiges Russland auf den Straßen. Brot und Spiele für die Massen. Junge Leute in blau-weiß-roten Kitteln sammeln Unterschriften und zählen potentielle Wähler. Zur Belohnung gibt’s Kugelschreiber, Kalender und Preisausschreiben.

Lena und ich gehen ins Kino und lassen uns neben einem Pappputin fotografieren. Von den übrigen Parteien – kaum eine Spur. Schirinowskis LDPR-Spot läuft viermal hintereinander im Lokalfernsehen. Eine Rentnerin verteilt Prospekte der kommunistischen Parteien vor dem Einkaufszentrum. Der Präsident lächelt huldvoll aus der Reklametafel über ihr.

„Glaube an Russland! Glaube an dich!“, schreibt Igor an Lena in einer SMS. Der Wahlspruch der führenden Partei. Igor, ein großer, dicker Mann, der demnächst nach Deutschland auswandern möchte, ist verliebt in Lena. Lena legt irritiert ihr Handy zur Seite. „Keine Ahnung, was das soll“, sagt sie und zeigt mir einen Handzettel, der schon Tage vor der Wahl im Internet kursiert: „Edinnaja Rossija hat mit überragender Mehrheit gewonnen“, verkündet der Flyer. „Die Wahlen sind doch sowieso getürkt“, sagt die 25-Jährige. „Ich sollte trotzdem wählen, wenn ich nicht gehe, stimmt sonst jemand anderes für mich ab.“ Gegen alle kann sie nicht mehr stimmen. Vielleicht zerreißt sie den Zettel einfach, überlegt Lena laut. Das wäre doch mal was.

Am Sonntag hat sie ihre Stimme verloren. Lena ist zu Hause geblieben. Ihre Mutter hat für die Kommunisten gestimmt, „weil früher alles besser war“. Die Tochter findet: „Sind doch alles Kommunisten – nur sind die, die jünger und fitter sind, rechtzeitig zu Putins Partei gewechselt.“ Der Präsident gefällt ihr schon. Als Mann. Ihre Freundin Anja hat drei Kreuze gemacht, „weil ich mich nicht entscheiden konnte“, sagt sie und lacht. Lieber ungültig wählen als gar nicht wählen. Etwas mehr als 50 Prozent der Omsker sind zur Wahl gegangen. Mehr als 63 Prozent von ihnen haben für Putin, für Einiges Russland, gestimmt, 14,8 für die Kommunisten, 9,4 für Schirinowskis LDPR.

Sonntag Abend Weihnachtsfeier im kleinen Kreis. Es gibt Feuerzangenbowle und Sakuski. Olga, Dozentin an der Universität, redet sich in Rage: „Russland wird nie eine Demokratie!“, schimpft sie. „Das ist einfach nicht unsere Mentalität. Aber so, wie es jetzt läuft, kann es doch auch nicht weitergehen. Und in so einem Land lebe ich.“ Leise nippt Lena am warmen Wein. „Das ist Russland“, sagt sie. Wenn etwas nicht funktioniert, wird eben improvisiert.

Auf dem Weg nach Haus bezahle ich meine zehn Rubel. Es ist nach Mitternacht. Wahltag war gestern.

Written by Christina

Dezember 4th, 2007 at 8:35 am

Leave a Reply