Stimmungsschwankungen

“Well, what if there is no tomorrow? There wasn’t one today.”

Über den Ural und zurück

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Briefe an Freunde

Kommt die Russischlehrerin Fräulein Wielsch in die Klasse, einen Stapel Briefe in der Hand, und sagt: „Heute könnt ihr euch einen Brieffreund in Russland aussuchen.“ Sie breitet die Briefe aus. Es schreiben zum Beispiel Lena aus Uljanowsk, Mischa aus Wladimir, Ljoscha aus Moskau, Olga aus Kansk und Olga aus Omsk.

Marlies Klein aus Putzkau bei Bischofswerda, braun bezopft, blaues Halstuch, weiße Bluse, damals gerade elf Jahre alt, nimmt sich einen Zettel von dem Stapel. Ihre Lehrerin übersetzt für sie. Die elfjährige Olga Michlik aus Omsk wird Marlies neue Brieffreundin. Das Mädchen schreibt sofort, noch etwas nüchtern, in ihrer schönsten Schreibschrift auf kariertem Papier: „Ich habe mich gefreut, überhaupt erst einmal einen Brief von einem ausländischen Pionier zu erhalten. In unserer Pioniergruppe geht es gut voran. Laß auch bitte bald was von dir hören.“ Das war am 22. September 1960.

Heute ist dieser erste Brief aus Putzkau schon vergilbt. Aber Olga hat ihn konserviert. In Folie verpackt hat sie das Papier und in einen roten Schulordner geheftet. „God 1960. Pismo pervoe“ steht in geschwungener roter Schrift am Kopf. „1960. Erster Brief.“ Es sollte nicht der letzte sein. In den vergangenen 48 Jahren gingen mehr als eintausend Briefe von der DDR in die UdSSR, von Deutschland nach Russland, von Sachsen nach Sibirien, über den Ural und zurück. Heute schreiben sich die beiden Frauen Emails.

Sorgfältig sammelte und ordnete Olga, die heute Filina heißt, ihre Zeugnisse der deutsch-sowjetischen, später deutsch-russischen, Freundschaft. Manche musste sie entsorgen, weil irgendwann kein Platz mehr dafür in ihrer Wohnung war. Die schönsten behält sie in ihrem roten Ordner.

Aufgeregt sitzt sie in einem Café im Zentrum von Omsk. Ihre Wohnung liegt am linken Ufer des Irtysch, vom Café ungefähr eine halbe Stunde Fahrt mit dem Bus entfernt. Dort wollte sie sich nicht treffen. Momentan leben in ihrer Dreiraumwohnung im Plattenbau ihr Mann, ihre Tochter mit Mann und Kind und ihr Sohn mit Frau und Kind. Übergangsweise, die eigenen Wohnungen der Kinder werden gerade renoviert. „Remont“ heißt das im Russischen. Und Remont findet eigentlich ständig statt. „Die Wohnung zu voll“, sagt sie. „Manchmal ich weiß nicht mehr meinen Namen, wenn ich gehe ins Bett.“

Im Café ist es dagegen vergleichsweise ruhig. Die 59-Jährige bestellt sich einen Capuccino mit Sahne und kramt in ihrer Tasche. Sie packt aus: den roten Ordner und ihre Brille. Ihre Korrespondenz legt sie ihrem Gegenüber vor. Lächelt beinahe stolz, froh, dass jemand ihre Post sehen will. Ein Zeichen von Marlies, die heute Meißner heißt, wenn jemand in Omsk nach Olga Filina fragt. Der Artikel in der deutschen Zeitung ein Zeichen für Marlies, dass es Olga Filina gut geht.

Umgekehrt ist das schon einmal geschehen: am 23. September 1975. „Abends 21.15 Uhr steht ein Mann vor unserem Haus und fragt, ob ich Marlies heiße. Er heißt Oljeg und bringt mir viele Grüße von Dir und Geschenke“, tippt Marlies einen Tag später an der Schreibmaschine auf Blümchenpapier. „Er sagte noch, dass er ein Nachbar von Dir ist und mit Dir studiert hat. Ich konnte an dem Abend gar nicht einschlafen, so aufgeregt war ich.“ Sie erzählt noch von ihrem Sohn und seinen ersten Tagen im Kindergarten und dem Päckchen, das zurück kam, weil sie verbotenerweise einen Unterrock mitgeschickt hatte.

In den Briefen zu blättern ist wie in einem handgeschriebenen Geschichtsbuch des Alltags zu lesen. Politik spielt darin keine Rolle, nur das, was sie anrichtet. Zu Beginn schreibt Marlies aus Putzkau noch in einem Mischmasch aus Russisch und Deutsch, später nur noch Deutsch. Ihre Brieffreundin machte es ihr leicht. Die Kinder tauschen sich aus über die Schule. Marlies schickt ihre Zensuren – „Gesamtverhalten: 1, Werken: 3“. Als sie das rote Pionierhalstuch verliehen bekommt, verschenkt sie ihr blaues nach Russland. Olga hat es aufgehoben. Später geht es um die Renovierung der neuen Wohnung und die Familie: „Bei uns kann man nach der Geburt des 2. Kindes 1 Jahr zu Hause bleiben. Ich bekomme ein halbes Jahr meinen vollen Verdienst, ein halbes Jahr 70% vom Verdienst. Das ist sehr schön“, schreibt die Deutsche 1981.

Im Laufe dieses knappen halben Jahrhunderts machten beide ihren Abschluss, lernten Berufe – Olga wurde Deutschlehrerin, Marlies arbeitete bei der Stadt Bischofswerda, heute leitet sie dort das Fundbüro. Die Frauen heirateten, sie zogen um, bekamen Kinder, zogen wieder um. Kommunismus, Perestroika, Wende, Mauerfall, Ulbricht, Stoph, Honecker, Krenz, dann Kohl, unsichere 1990er, Chruschtschow, Breschnew, Andropow, Tschernenko, Gorbatschow, Jelzin, Putin, neue Moden neue Frisuren, neue Filme, Musik, Krankheiten, Todesfälle, Urlaube und immer wieder das Wetter – Geschichte wurde geschrieben, das Leben ging weiter und änderte sich, nur die Brieffreundin aus Kindertagen, die war immer dabei, die kam immer mit.

Gesehen haben sich die beiden nur einmal in ihrem Leben. Vor ungefähr 34 Jahren fand ein beinahe konspiratives Treffen in Dresden statt. Olga holt eine Schwarz-Weiß-Aufnahme aus ihrer Tasche. Das Foto zeigt die beiden Frauen in Dresden: Eine Blondine sitzt neben einer Brünetten auf einem Brunnenrand. Zwischen ihnen lacht ein kleiner Junge in kurzen Hosen. „Der Junge ist Oliver, der Sohn von Marlies“, sagt Olga. Marlies ist die Brünette. „Ich bin extra mit dieser Delegation mitgefahren, weil ich meine Freundin unbedingt einmal sehen wollte“, sagt Olga Filina. Damals, 1974, reiste ihre Gruppe von Berlin nach Dresden. Die Frauen hatten sich verabredet, die Reiseleitung änderte jedoch die Zeitpläne. Handys gab es nicht. Es war die Reiseleiterin, die Verständnis für ihr sehr aufgeregtes Mitglied der Delegation hatte. Sie rief im Rathaus Bischofswerda an, wollte Marlies Meißner erreichen. Die hatte Urlaub. Mitarbeiter fuhren hin, sagten Bescheid und die Familie Meißner setzte sich ins Auto. „Wir sind im Moskwitsch meines Schwagers nach Dresden gefahren und haben alle Galerien abgeklappert“, sagt die heute 59-Jährige. „Ich habe in allen Hotels in Dresden kleine Zettel hinterlassen, auf denen stand, wo ich bin“, sagt Olga Filina. „Wir wussten nicht mehr weiter, da sehen wir eine große Menschengruppe am Goldenen Reiter. Jemand löst sich aus der Menge und ruft ‚Hallo Marlies’“, sagt die Deutsche. „Und Olga und Marlies weinen“, sagt die Russin.

Jetzt weint sie fast selbst. Setzt kurz ihre Brille ab, wischt die Augen, erzählt weiter. „Wir waren dann zusammen in Galerien, aber ich habe nur Marlies gesehen.“ Den russischen Konsul ruft sie an und fragt, ob sie mit ihrer deutschen Freundin den Tag verbringen darf. Sie darf und fährt mit ihr nach Bischofswerda. Am Ende sind beide heiser vom Erzählen. Olga wird der Familie, den Freunden, den Nachbarn, allen, die greifbar sind, vorgestellt. Es gibt Geschenke „und überall Apfelsaft“, sagt sie. „Das ist Olga aus Omsk. Apfelsaft. Das ist Olga aus Omsk. Apfelsaft.“

Marlies Meißner und Olga Filina sehen sich danach nie wieder. Nicht zur Hochzeit in Russland, auch nicht nach dem Mauerfall. „Für uns war es nach der Wende eine kritische Zeit, vor allem finanziell“, sagt die Frau aus Bischofswerda. „Mein Mann war auf Kurzarbeit und mein Sohn hat nach einer Lehrstelle gesucht.“ Olga Filina war später noch dreimal in Deutschland – zum Schulaustausch in Frankfurt am Main. Im Hause Meißner war selbst für eine Bahnfahrt dorthin nicht ausreichend Geld vorhanden: „Mit leeren Händen wollte ich doch auch nicht hinfahren“, sagt Marlies. Also blieb sie zu Hause, schickte Päckchen, schrieb Briefe und telefonierte mit der Freundin in Russland.

Mittlerweile reist weniger Post von West nach Ost, von Ost nach West. Es gibt ja das Internet. Die beiden Frauen schicken sich Emails und berichten einander wie eh und je vom Alltag: „Wir unterhalten uns zum Beispiel über Gewichtsprobleme“, sagt die 59-jährige Sächsin und lacht. „Wer wann abgenommen, wieder zugenommen und wieder abgenommen hat. So was eben.“

Eines Tages möchte sie gern nach Sibirien reisen. „Marlies, im Sommer musst du nicht kommen“, hatte ihr Olga einmal gesagt. „Komme im Winter, das ist viel interessanter.“ Marlies Meißner denkt darüber nach – und hört nebenbei russische Volksmusik: „Wenn die Don Kosaken in unsere Gegend kommen, gehe ich immer hin.“

In Omsk gibt es keine Don Kosaken. In Omsk wartet Olga. „Marlies ist wie eine Schwester für mich“, sagt sie und trinkt endlich einen Schluck vom Sahne-Capuccino. Obwohl schon in Rente arbeitet sie noch als Lehrerin. Sie unterrichtet Französisch. Die Briefe aus Deutschland setzt sie im Unterricht ein – als Beweis für gelungene Völkerverständigung.

Written by Christina

Februar 18th, 2008 at 7:14 am

One Response to 'Über den Ural und zurück'

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  1. Heute morgen habe ich diesen Artikel in der „SZ“ gelesen und landete deshalb auf dieser Seite.
    Gefällt mir, werde wahrscheinlich noch öfter hier stöbern.

    Gruß aus der alten Heimat

    Manfredo

    Manfredo

    23 Feb 08 at 12:14

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