Stimmungsschwankungen

“Well, what if there is no tomorrow? There wasn’t one today.”

Das sind schon Solche

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Besuch aus Korl-Morx-Stodt, no

Omsk war mal eine abgeschlossene Stadt. Da durfte niemand rein und manchmal auch niemand raus. In diesem Fall aber kamen die Gäste freiwillig, blieben drei Tage und spielten Musik. Sehr schön. Fotos gibts später. Ich muss erst mal sortieren.

Schnee stiebt, Steppe, Sternenhimmel. Es ist irgendeine Uhrzeit um die Mitternacht. „California rest in peace“, singen die Red Hot Chili Peppers. Dimitri hat sein Autoradio lauter gestellt. Und mit der Fluppe in der Hand tanzen „Solche“ neben dem Wagen auf weißem Boden vor schwarzer Weite gegen die Müdigkeit und für warme Beine.

Dimitri, der Fahrer, musste ausruhen, frische Luft schnappen. Vier Stunden lang hat er die deutsche Rockband „Solche“ aus Chemnitz schon gefahren: vom westsibirischen Omsk ins 350 Kilometer weiter nördlich gelegene Tara. Jetzt sind sie auf dem Rückweg, auf halber Strecke ins Bett. Es ist Anfang März und „Solche“ sind auf Tour durch Russland.

Die Chemnitzer Zwei-Mann-Combo spielt Akustik-Rock mit einem Schuss Lagerfeuerromantik und intellektuellen Texten. Holm Krieger, hauptberuflich Musiker, nebenberuflich Germanistikstudent, singt und klampft. Andreas Neubert, promovierter Pädagoge, sitzt hinterm Schlagzeug. In Chemnitz und Umgebung haben sich sie sich in zwei Jahren Bandgeschichte einen Ruf erspielt, bereits ein Album im Selbstverlag und ein Buch mit Kurzgeschichten herausgebracht.

Vor noch nicht einmal einem Jahr tourte das Duo dann zum ersten Mal durch Russland, rockte auf dem Roten Platz in Moskau, im sibirischen Novosibirsk und in Tomsk. Damals wie heute wurde die musikalische Reise vom Dresdner Verein Kultur Aktiv organisiert. Der Verein fördert den Austausch zwischen Künstlern in Ost und West. Tara ist Punkt Nummer Fünf der diesjährigen Tournee von Krieger und Neubert. Am Abend zuvor spielte das Duo vor etwa 100 Zuhörern in Omsk, am Tag danach in einer Schule im deutsch-nationalen Landkreis Asowo. Bevor sie nach Omsk kamen, hatten sie sich bereits kreuz und quer durch Russland musiziert, waren mal wieder in der Hauptstadt, im ewig eisigen Jakustsk und in Barnaul.

Im Gegensatz zu diesen Orten ist Tara für russische Verhältnisse fast noch ein Dorf: Etwa 27000 Einwohner leben dort. Das Städtchen ist nur mit dem Auto zu erreichen, verfügt über einen alten Kern hübschester Holzhäuschen, die üblichen Plattenbauten und natürlich ein Kulturhaus im postsowjetischen Zentrum.

Doch Tara ist anders als die bisherigen Stationen. Tara schlummert. „Das ist das erste Rock-Konzert, das hier stattfindet“, sagt Deutschlehrerin Tatjana, die die Band dort betreut. Sie sagt nicht, ob damit nur das Kulturhaus gemeint ist. Normalerweise tanzen und singen dort russische und russlanddeutsche Folkloregruppen. Diesmal sitzen zwei Mittdreißiger in Jeans und T-Shirt mit nicht mehr als einem Schlagzeug und einer Akustikgitarre auf der Bühne. Im Zuschauerraum etwa 600 Jugendliche aus dem Ort und von weiter her – angeblich bis zu 300 Kilometer sind einige der Teenager gereist, um eine deutsche Rockband zu sehen, von der sie bis dahin noch nie etwas gehört haben. Immerhin Tokio Hotel kennen sie schon und finden deutsche Musik deswegen per se erst mal nicht schlecht.

Heimspiel könnte man beinahe nennen, was dann geschieht. Holm Krieger schüttelt den blonden Pony, strahlt in die Menge und kündigt an: „Das nächste Lied heißt ‚Reflexionen‘ und ist am Anfang so was wie Rammstein unplugged.“ „Uaaah“, grölt die Menge und zückt die Handys zum Filmen. Ein kleines Lichtermeer vor der Bühne, bonbonfarben angestrahlte Indie-Rocker auf der Bühne. Solche spielen mit Begeisterung, singen mit „Süßigkeiten“ gegen mediale Verdummung, mit „Trinklied“ gegen das Saufen, mit „Geschoss“ für ein bisschen Widerstand, mit „Supergaul“ für Eigeninitiative – was beim Publikum ankommt sind Melodie und Rhythmus. Irgendwann tanzt die sibirische Jugend vor ihren Sitzen, singt mit – irgendetwas zwischen „Hey, ho, Supergirl“ und „supergeil“. Genau zu verstehen ist das nicht. Aber die Stimmung, die stimmt.

Ziel erreicht: „Unsere Musik soll ausdrücken, was wir haben, nämlich Spaß“, sagt Holm Krieger. Die unkomplizierte, eingängige Melodie als trojanisches Pferd für den kopflastigen Inhalt. Sänger Krieger: „Jemand, der ein tanzbares Lied wie ‚Supergaul’ gut findet, kann trotzdem was aus unseren Konzerten mitnehmen.“ Und: „Das Leben muss nicht doof sein, nur weil man darüber nachdenkt.“ Die Hefte mit den ins Russische übersetzten Texten waren nach dem Auftritt vergriffen. Die mitgebrachten CDs ebenfalls.

Nächtliche Rückreise im Schneesturm. Fahrer Dimitri sucht im Radio nach Musik, die seinen Gästen gefallen könnte. „California rest in peace“, singen die Red Hot Chili Peppers. Und mit der Fluppe in der Hand tanzen Solche neben dem Wagen auf weißem Boden vor schwarzer Weite gegen die Müdigkeit und für warme Beine. Die Reise geht weiter. Im September nach Wladiwostok.

Written by Christina

März 10th, 2008 at 12:19 pm

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