Stimmungsschwankungen

“Well, what if there is no tomorrow? There wasn’t one today.”

Begegnungen

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Abflug: Montag ein Uhr morgens in Berlin. Natürlich bin ich zu früh und natürlich bin ich übereifrig. Meinen Koffer wuchte ich voll Enthusiasmus auf das Laufband des Bundesgrenzschutzes. Mit gerunzelter Stirn betrachten die Hüter der Grenze, was ich mitnehme und werden wahrscheinlich nicht schlau daraus. Zu viele Strippen, zu viel Technik. Der Koffer ist zum Bersten gefüllt mit Kleidung, Schuhen, Mini-Discs und Ladegeräten. In meinem Rucksack sieht es nicht anders aus. Ich werde belächelt und durchgelassen.

Da sitze ich nun vor dem Schalter auf meinem Koffer. Es ist um neun. In zwei Stunden kann ich einchecken. Ich kapituliere und zerre mein Gepäck wieder hinter die Absperrung. Vorsorglich entfernt einer der Wachmänner den gelben Aufkleber. Ich schleppe mich und den Rest ins nächste Café und drehe, weil mir nichts besseres einfällt, ein paar Zigaretten auf Vorrat.

Neben mir sitzt ein junger Mann: kurz geschorene Haare, die Kleidung darf ruhig schmutzig werden, seine Kraxe ist pink – wahrscheinlich geliehen. Er hat Feuer, stelle ich fest. Also frag ich. Wir kommen ins Gespräch. 23 Jahre ist er jung, heißt Sebastian und wird mit mir fliegen. Es ist sein erstes Mal. Ich kann es nicht glauben. Er sagt, er ist froh, jetzt jemanden zu kennen, der neben ihm sitzen und ihn beruhigen kann. Johanneskraut auf zwei Beinen – sozusagen. Dass ich gleich auf den ersten Blick einen so gesetzten Eindruck mache, beruhigt mich nicht. Sebastian möchte zum Baikalsee, mit der Transsibirischen. Er spricht kaum Russisch und will aussteigen auf Zeit. Für drei Wochen, um genau zu sein. Im Duty-Free kauft er Ferrero-Raffaelo. Als Mitbringsel für Leute, die er dort treffen möchte. Eigentlich gilt Roché dort als Delikatesse, sagt er. Aber die kennen den Unterschied sowieso nicht. Genau. doof sind sie, die Provinzrussen.

Dabei kommt Sebastian selbst aus der Provinz. Aus der gleichen wie ich. Ich kenne seine Schwester. Gegen Mitternacht freuen wir uns darüber, wie klein die Welt doch tatsächlich ist und trinken einen Kaffee. Kettenraucher Sebastian zeigt, seit wir den BGS passiert haben, leichte Entzugserscheinungen. Wir werden für ein Paar gehalten. Jemand möchte uns einen verlassenen Rucksack aufhalsen. Danke, ich habe schon genug.

Im Flugzeug bin ich als Trostspender nicht geeignet. Ich versuche, Gelassenheit auszustrahlen und schlafe dabei ein. Als ich wieder aufwache, hat Sebastian seine Zigaretten rausgeholt und freut sich auf die Landung. Ich nicht. Da warten nur meine Koffer. Und wie ich zu meinem Hostel komme, weiß ich auch nicht.

Doch Lösungen finden sich, wenn man nicht sucht: Mein Begleiter wird abgeholt und ich fahre mit. Bis zur nächsten Metrostation. Wie man sich ein Ticket kauft, weiß ich noch. Mit welcher Bahn ich bis zur Hostel-Station komme, auch. Womit ich nicht rechne: Treppen, Treppen, Treppen, auch rollende, Menschenmassen und hektisches Geschubse. Meine Gelassenheit ist dahin. Ich schwitze, bin müde und wünsche mir rote Lackschuhe.

Glücklicherweise hat die Metrodysee auch ein Ende. Bis zu meiner Unterkunft muss ich noch ein Stück laufen. Mein Koffer ruckelt über löchriges Pflaster. Der Fußweg ist auf einmal zuende. Ich verstehe die Wegbeschreibung nicht mehr und weit und breit kein Schild. Ein paar Männer sitzen am Straßenrand und beobachten das blonde Mädchen in der roten Strickjacke, wie es sich Rücken und Hände zerschindet. Ihre Autowerkstatt scheint auch ohne sie zu florieren. Natürlich frage ich nicht nach dem Weg. Lieber laufe ich mir die Füße wund. Es stellt sich heraus, dass es sich lohnt, immer geradeaus zu gehen, denn irgendwann komme ich an. Ich fühle mich wie jemand, der die Wüste durchquert hat, wie jemand, der grundlos Steine auf Berge rollt, wie jemand, der für seine Diplomarbeit nach Russland reist und nicht weiß, was ihn dort erwartet.

Written by Christina

Oktober 15th, 2006 at 6:08 pm

Posted in Alle,Russland

One Response to 'Begegnungen'

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  1. Hallo Christina – sehr schön geschrieben – habe auch den Artikel in der SZ gelesen – interessiert mich sehr, da ich noch eine Brieffreundin in Omsk seit 40 Jahren habe.
    Wir waren 11 Jahre, als unsere Brieffreundschaft begann – über die Schule
    damals vermittelt – haben uns nur einmal gesehen – 1974

    Marlies Meißner

    2 Nov 07 at 15:06

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