Stimmungsschwankungen

“Well, what if there is no tomorrow? There wasn’t one today.”

Russisch denken I

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Sonnabend Mein Handy ist verschwunden. Mein ständiger Begleiter, schnelle Verbindung zur sicheren Heimat, Wecker und Uhr in einem. Weg. Nachts, die Tür zum Zimmer nicht abgeschlossen, weil es nur einen Schlüssel für vier Bewohner gibt und alle zu unterschiedlichen Zeiten heimkommen. Ich schlafe bereits, als mich das Piepen und Blinken meines Mobilen aus den Träumen reißt. Danach werde ich das teure Stück nie wieder sehen.

Am nächsten Morgen weckt mich Pierre mit seinen eifrigen Bemühungen, beim Packen keinen Lärm zu verursachen. Ich will nachschauen, wie spät es ist und vermisse meine Uhr, meinen Wecker und meine schnelle Verbindung zur Heimat. Wir suchen. Drei Männer und eine heulende Frau krempeln das Zimmer um. Pierre bietet mir sein Handy an, um mich selbst anzurufen. Nur mein Anrufbeantworter spricht mit mir, keine lustige Klingelmelodie lässt die Spannung im Zimmer verschwinden. Ich werde langsam paranoid, verdächtige erst meinen norwegischen Mitbewohner, später auch meinen französischen. Beide reisen an diesem Tag ab. Die Mär vom unbekannten Besucher, der sich des nachts durch die Zimmer schleicht und Wertsachen mitnimmt, will ich nicht glauben.

Anja, Rezeptionistin im Hostel Scherstone, ruft die Polizei für mich. Damit ich wenigstens die Formulare für meine Versicherung bekomme, erkläre ich ihr. Sie wirkt skeptisch, schlägt mir vor, die Sachen meiner Mitbewohner doch einfach so zu durchsuchen – Wir schließen die Tür zum Büro ab und gucken dann nach – sagt sie. Es ist nicht so, dass mir die Idee nicht gefällt. Der offizielle Weg scheint mir nur sicherer. Naiverweise hoffe ich, dass die bloße Erwähnung der hier nicht sonderlich zimperlichen und deswegen auch nicht sehr beliebten Miliz dazu führt, dass mein Mobiles zauberhafterweise wieder auftaucht.

Es bleibt verschwunden und auch der heftig zwinkernde Milizionär findet es bei seiner nur wiederwillig begonnenen Suchaktion nicht wieder. Stattdessen steht er im Zimmer und zählt die Flaschen, findet eine halbvolle mit Wodka und konstruiert daraus kriminalistisch brilliant ein hemmungsloses Saufgelage in dessen Verlauf ich mein Handy entweder verschenkt, aus dem Fenster geworfen oder verschluckt habe. Zwei leere Tablettenkapseln in der Schreibtischschublade überzeugen ihn endgültig davon, in die fauligen Abgründe eines Drogensumpfes hinabgestiegen zu sein. Mit knackendem Kiefer bearbeitet der junge Mann seinen Kaugummi, zwinkert lange und ausgiebig mit den Augen und klammert sich an die abgegriffene Aktenmappe in seinen Händen. Um die für die Versicherung benötigten Formulare zu bekommen, müsste ich am Dienstag zum Polizeirevier gehen, zwischen acht und neun sei er im Büro. Ach ja, einen Dolmetscher bräuchte ich auch. Ich frage, ob mein Wörterbuch denn ausreichen würde. Er zwinkert mich nervös an. Dann redet er mit Anja, der Rezeptionistin, die sich während der gesamten Prozedur, einem Nervenzusammenbruch nahe, am Türrahmen festgehalten hatte.

Verschwörerisch zieht mich die alte Jungfer zu sich heran. Der Mann möchte ein Geschenk, flüstert sie mir ins Ohr. Pralinen meint er damit nicht. Ich zücke also mein Portemonaise und gehe mit 200 Rubeln, ungefähr sechs Euro in der klammen Hand zu ihm. Die Ruhe selbst begegnet mir im Aufenthaltsraum. Die sonst so nervösen Augen zu Schlitzen zusammengekniffen raucht der Milizionär eine Zigarette. Sein befriedigter Gesichtsausdruck macht mir Angst. Ich drücke ihm die zusammengerollten Scheine in die Hand, sage Auf Wiedersehen, drehe mich um und gehe. Aus den Augenwinkeln bemerke ich, wie er Einspruch erheben will, es dann aber lässt. Später erklärt mir Anja leise kichernd, dass sie 300 Rubel mit ihm ausgemacht habe. Ich beschließe, auf die Formulare und meinen Besuch auf dem Revier zu verzichten.

Written by Christina

Oktober 15th, 2006 at 7:17 pm

Posted in Alle,Russland

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