Stimmungsschwankungen

“Well, what if there is no tomorrow? There wasn’t one today.”

Meine Woche in Tomsk – Teil 3

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Rückfahrt

Hatte ich zu Beginn noch behauptet, 14 Stunden im Zug lassen sich gut aushalten? Das war eine Lüge, na sagen wir, eine Halbwahrheit. Die Zutaten einer schlaflosen Nacht im Schlafwagen: Ein Hühnerbein, drei Salate, zwei Flaschen Wodka, drei russische Männer und vier Gläser.

Alfia wusste schon, warum sie kurz vor meiner Abfahrt noch einmal die Schaffnerin und Waggonbeauftragte fragte, ob nicht noch ein anderer Platz frei sei. Ich teilte mir mein nächtliches Quartier mit drei Herren um die 30. Das widersprach den moralischen Vorstellungen meiner Gastmutter. Mir war das zu Beginn zumindest ziemlich egal und ein anderer Platz sowieso nicht frei.

Höflich stellten sich die drei Herren vor, zwei von ihnen hießen Aleander, oder Ljoch, wie sie sich gegenseitig nannten. Der dritte hieß Zhenja, was in Deutschland dem hübschen Namen Eugen entspräche. Eugen alias Zhenja hatte die Pritsche über mir, machte es sich aber gleich am Kopfende meiner Liege gemütlich. Ich saß am Fußende.

Kurzer Einschub für alle, die keine Vorstellung davon haben, wie so ein Waggon aussieht. In Russland kann man entweder Coupe reisen oder Platzkartnij. Letzteres ist die günstigere Alternative. Das ist dann ein Waggon vollgebaut mit Liegen. Jeweils eine unten, eine oben und in Gehrichtung im Gang. Türen gibt es keine. Wer im Mittelteil des Abteils und oben liegt, hat verloren – da gibt es am wenigsten frische Luft, vor allem im Winter, wenn der Zug gut geheizt und wenig gelüftet wird. Coupe ist angenehmer. Ein Waggon ist in viele kleine Abteile aufgeteilt. In jedem Abteil gibt es bis zu vier Betten. Auch hier hat Glück, wer unten liegen darf. Denn weder im Coupe noch im Platzkartnij sind die Fenster zu öffnen. Für alle Freunde der Folklore: Mitreisende Gänse, Hühner, Ziegen oder Kühe habe ich bisher noch nicht erlebt. Ausschweifende Partys ebensowenig. Nur besoffene Russen – und das ist nicht das gleiche.

Womit wir wieder beim Thema wären. Die beiden Ljochs stellen sich vor, Zhenja gibt mir seine Telefonnummer. Ich lege die Süßigkeiten auf den Tisch, die Alfia mir noch eingepackt hat. Ljoch und Ljoch packen ein Hühnerbein, drei Salate und eine Flasche Wodka dazu. Ich ahne es. „Auf die Völkerverständigung“, sagt Zhenja. Mir bleibt nicht viel anderes übrig. Ich nippe an meiner Wodka-Cola – das Mixen war mir gestattet. Die Herren trinken auf Ex und füllen sich gleich nach.

So geht das eine ganze Weile. Sie stellen fest, dass sie alle beim gleichen Unternehmen, nur in anderen Städten, arbeiten – Gazprom. Im Tomsk fand eine Schulung statt. Oleg und Boleg haben ein Zertifikat der deutschen Firma Knauf bekommen und sind enttäuscht, weil ich den Gipskartonhersteller nicht kenne. Zhenja beginnt, von den Gazprom-Olympiaden zu erzählen. „Habt ihr gesehen, wie sich vor zwei Jahren ein Typ beim Armdrücken den Arm gebrochen hat?“, fragt er und macht es vor. Nein, haben sie nicht. Aber sie waren beim Fußball. Ja, war Zhenja auch. Danach gab es eine Massage beim betrunkenen Masseur, die aber trotzdem klasse war.

Auf ihren Handys zeigen sie sich gegenseitig Fotos ihrer Frauen und Kinder. Und ich freue mich: Mit den Kurzformen russischer Namen komme offenbar nicht nur ich nicht zurecht. „Wie, Anna ist die Kurzform von Anuta, ehrlich?“, der erste Ljoch ist erstaunt. „Ja, und Anja auch“, sagt Zhenja. „Und Wowa ist Wladimir? Bist du dir sicher?“ Das wusste dann sogar ich. Die erste Flasche ist leer.

„Und, schwimmst du schon?“, fragt mich Zhenja mit schlingerndem Blick. Nö, ich bin ja noch beim ersten Glas. Sie gehen los, der kleine, dicke Ljoch und der kleine, dünne Zhenja und kaufen noch eine Flasche im Zugrestaurant. Über den Preis sind sie etwas erstaunt. Auch über den Service: „Ich frage die Frau, ob sie eine Speisekarte hat und sie sagt ‚Die Speisekarte bin ich'“, regt sich mein Coupenachbar auf. Und die Fleisch gewordene Speisekarte machte ihren eigenen Preis – extra für die Angetüterten in ihrem Refugium.

Mit der zweiten Flasche wurde es anstrengend. Ich versuchte, zu schlafen. „Christina, nicht schlafen“, sagte Zhenja und rüttelte an meinen Beinen. Er saß immer noch auf meiner Pritsche. „Christina, lass uns zusammen einen Kaffee im Restaurant trinken, oder einen Tee“, sagte der dicke Ljoch und rüttelte ebenfalls an meinen Beinen. „Warum willst du denn nicht? Willst du nur mit mir nicht oder willst du allgemein nicht?“ Er heulte fast. Meine Antwort: „Wenn du willst, dass ich glücklich und zufrieden bin, lässt du mich schlafen, ich bin nämlich sehr, sehr müde.“ Das brachte sein Argumentationsgebäude ins Wanken und er begann, nachzudenken. „Du willst dringend schlafen, was?“, sagte er. „Aber wir könnten vorher ja noch einen Tee trinken gehen. Oder noch einen Schluck Wodka.“ Es war sinnlos.

Ich drehte mich um und hörte Musik. Irgendwann fand jeder seine Koje. Die beiden Alexanders stiegen zuerst aus. Unter großem Getöse und mit viel Kraftaufwand schafften sie es auf den Bahnsteig. Zhenja schnarchte. Kurz vor Omsk stieg er aus dem Jogginganzug in seine Verkleidung als Geschäftsmann, band sich die Krawatte und übertönte die Ausdünstungen seines Körpers mit Aftershave und Parfum. Ich hab mich nicht verabschiedet. War zu müde.

Endlich zu Hause wollte ich ankommen und schlafen. Mein Nachbar meißelte aber gerade seinen Türrahmen aus der Wand. Remont. Ich wünschte mich zurück in den Zug.

Written by Christina

April 1st, 2008 at 7:45 am

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