Stimmungsschwankungen

Oder: Moskau

Für jemanden, der Russland noch nicht kennt, beginnt die Reise selbstverständlich in Moskau. Wir haben uns dort getroffen und blieben eine Woche. Die Woche umschloss den Tag des Sieges. Lena hatte uns gewarnt: Sprecht dann kein Deutsch, sagte sie, da reagieren die Leute komisch.

Natürlich hat niemand komisch reagiert. Die Parade auf dem Roten Platz haben wir kurzerhand verpennt. Wer daran nun Schuld hat, sei mal dahin gestellt. Ich denke, Artjom, Hostelwart, hätte einfach nicht sagen dürfen, dass es erst um zwei losgeht.

Da war nämlich schon alles gelaufen. Um eins standen wir am Straßenrand. Man sah noch übrig gebliebene Sperren und Menschen. Ein Polizist pirscht sich an einen Mann mit Kind an der Hand heran – ein erwachsener und ein kleiner Asiate. „Stehen Sie hier nicht rum! Hier gibt es nichts zu sehen“, ruft der Polizist unaufgeregt aber deutlich in sein Megafon. Das hängt ungefähr einen halben Meter vom Kindskopf lässig an den Milizengürtel geschnallt. Mann und Kind trollen sich.

Alte Busse wie Schulbusse mit fröhlich winkenden, unheimlich gesund aussehenden, früh aufstehenden jungen Burschen im Bauch fahren vorbei. Was haben wir wohl verpasst?

Schnätterätäng, Uffta und Stiefelknallen, Panzerketten auf Kopfsteinpflaster, große Raketen rollen strahlend vorbei, die Stalinorgeln bleiben stumm, Molotowcocktails werden nicht serviert, Kalaschnikows nur vorgeführt, Salut, Salut, rote Fähnchen winden sich im Wind, liebe Genossinnen und Genossen, grüßen und winken und jubeln und grüßen und winken und jubeln, alte Männer und kalte Männer auf der Tribüne, geladene Gäste auf dem Platz, stramme Burschen im Gleichschritt, einer wie der andere, einer wie der andere, einer wie der andere, wir sind wieder wer, wir sind wer, wir sind wieder wer.

Als die Kriegsmaschinerie abgezogen ist, darf das Volk den Platz betreten. Es verschenkt Nelken an seine Veteranen.

Zurück in der Unterkunft stoßen wir mir Artjom an. Der Junge hat mal gedient – deswegen ist das auch mein Feiertag, sagt er. Wir trinken Wodka und essen Sakuski. Später erzählt er, wie er bei der Parade in Wladiwostok mal mit den Offizieren mitgehen durfte. Ich, der einfache Soldat, sagt er, in Offiziersuniform, und wird vor Freude ganz rot im Gesicht.